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Ministerpräsident Erdogan steht weiter in der Kritik.

© AFP

Nach Tritten in Soma: Politische Blessuren für Erdogan

In der Türkei reißt die Kritik an Ministerpräsident Erdogan nicht ab. Die Tritte seines Beraters Yerkel gegen einen Bergarbeiter werden nun auch im Erdogan-Lager verurteilt – und von Selbstverteidigung kann nach neuesten Erkenntnissen wohl nicht die Rede sein.

Das Bild ging um die Welt: Yusuf Yerkel, Anfang 30, Berater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, tritt bei einem Besuch im westtürkischen Soma nach dem dortigen Grubenunglück auf einen Demonstranten ein. Die Szene sorgte für einen Aufschrei der Empörung in der Türkei, die noch zunahm, als sich Yerkel krankschreiben ließ, weil er sich beim Treten das Bein verstaucht hatte. Erdogan mag gehofft haben, dass der Vorfall mehr als eine Woche nach dem Unglück allmählich in Vergessenheit geraten werde. Doch statt dessen werden die durch die Tritte verursachten politischen Blessuren für die Regierung immer deutlicher.

Selbst in Erdogans eigenem Kabinett gibt es Unmut. Regierungssprecher Bülent Arinc distanzierte sich von Berater Yerkel und fragte öffentlich: „Warum tritt man auf einen am Boden liegenden Menschen ein?“ Dass sich Yerkel dann auch krank meldete, sei „tragikomisch“.

In der regierungsnahen Presse und von anderen Erdogan-Beratern waren die Tritte bisher als angemessene Antwort auf Proteste gegen Erdogan und als Akt der Selbstverteidigung gerechtfertigt worden; Erdogan selbst soll in Soma ebenfalls einen Mann geschlagen haben, doch wurde dies von Arinc dementiert.

Kritik auch aus dem Regierungslager

Arinc ist nicht irgendwer. Als Mitbegründer der Erdogan-Partei AKP gehört er zu den mächtigsten Männern in der Regierung. Seine Schelte für Yerkel ist ein Zeichen dafür, dass auch im Regierungslager viele angesichts des Verhaltens des Beraters große Bauchschmerzen haben.

Inzwischen aufgetauchte Videoaufnahmen von den Momenten vor den Fußtritten belegen zudem, dass Yerkel nicht von dem Demonstranten angegriffen worden war – von Selbstverteidigung kann also keine Rede sein. Auch die These des Regierungslagers, bei Yerkels Opfer habe es sich um einen zugereisten linken Provokateur gehandelt, fiel in sich zusammen. Nach einer Meldung der Zeitung „Cumhuriyet“ heißt das Opfer Erdal Kocabiyik und ist ein Bergmann aus Soma. Kocabiyik wurde dem Bericht zufolge nach den Tritten sogar vorübergehend festgenommen. Er hat inzwischen Strafanzeige gegen Berater Yerkel eingereicht, der nach wie vor im Amt ist.

Erdogan hatte in Soma tödliche Bergwerksunglücke als normal bezeichnet und damit viele Menschen gegen sich aufgebracht. Inzwischen hat der 60-jährige seine Rhetorik geändert. Er verspricht bessere Arbeitsschutzbestimmungen, mehr Kontrollen und schärfere Gesetze. „Nicht wird mehr so sein wie bisher“, sagte er in einer Rede am Donnerstag. Zugleich räumte er ein, dass in der Türkei an einem durchschnittlichen Tag zwei Menschen durch Arbeitsunfälle ums Leben kommen.

Der Grund für das plötzliche Problembewusstsein liegt in Erdogans Präsidentschaftswahlkampf, den er an diesem Samstag mit einer Rede vor Auslandstürken in Köln einläuten will. Der Ministerpräsident hat wohl eingesehen, dass sein Umgang mit dem Grubenunglück viele seiner eigenen Wähler irritierte. So etwas kann er sich derzeit kaum leisten, denn bei der Präsidentenwahl im August braucht er für einen Sieg in der ersten Runde mindestens 50 Prozent plus eine Stimme.

Streit um Deutschlandbesuch Erdogans

Vor Erdogans Reise nach Deutschland verschärften regierungsnahe Medien unterdessen ihre Vorwürfe gegen die Bundesrepublik. In den vergangenen Tagen hatte das Erdogan-treue Blatt „Yeni Safak“ den deutschen Behörden vorgehalten, Erdogan stürzen zu wollen. Am Donnerstag verbreitete Fuat Ugur, ein Journalist des regierungsnahen Fernsehsenders ATV, über Twitter die Meldung, deutsche Geheimagenten bezahlten im Istanbuler Stadtteil Okmeydani regierungsfeindliche Aufrührer.

In Okmeydani wohnen viele Aleviten, Mitglieder einer islamischen Glaubensgemeinschaft, die sich in der mehrheitlich sunnitischen Türkei unterdrückt fühlen. In dem Stadtteil wurde am Donnerstag ein Alevit am Rande von Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten von einer Kugel aus einer Polizeiwaffe am Kopf getroffen und lebensgefährlich verletzt.

Ziel der angeblichen BND-Operation in Okmeydani sei es, Erdogans Rede in Köln zu verhindern, wo viele Aleviten am Samstag gegen den türkischen Premier demonstrieren wollen, schrieb Ugur auf Twitter. Beim kürzlichen Türkei-Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck hatte Erdogan den Aleviten in Deutschland vorgeworfen, sie seien Atheisten.

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