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Weißer Phosphor Gaza

© AFP

Nahost: Gazakrieg: Gegen Israel werden weitere Vorwürfe erhoben

Die Liste der Vorwürfe gegen Israel wird immer länger. Es gab Verletzungen, die den Ärzten völlig unbekannt waren. Die Zahl der Phosphorgranaten überstieg scheinbar bei weitem die Angaben der israelischen Armee. Außerdem sollen Frauen und Kinder ohne Grund erschossen worden sein, berichtet Human Rights Watch.

Tränen laufen Sabah Abu Halima über das Gesicht. Stöhnend liegt sie in ihrem Krankenbett. Jede Bewegung schmerzt. Rücken, Hände und Beine sind verbrannt, wahrscheinlich kann sie nie mehr laufen. Als nachmittags die Phosphorgranate in ihrem kleinen Haus in Beit Lahia einschlug, war die ganze Familie in einem Raum zusammen. Ehemann und vier Kinder waren auf der Stelle tot. Die 45-Jährige und ihre übrigen fünf Kinder liegen mit Verbrennungen im Schifa-Hospital in Gaza-Stadt. "Warum beschießen sie unsere Häuser, warum nur", klagt ihre Schwester Suhaira, die seit 20 Tagen neben der Schwerverletzten wacht.

"Wir haben die Granate gesehen - typische grüne Streifen, eindeutig weißer Phosphor", sagt Marc Garlasco von Human Rights Watch. Der 38-Jährige war im Pentagon Zielplaner für amerikanische Luftangriffe - unter anderem im Kosovo- und Irakkrieg. Vor einigen Jahren wechselte er die Seiten - und selbst dieser nüchterne Mann zeigt sich schockiert von dem, was er jetzt in Gaza zu sehen bekommt. "Das Vorgehen der israelischen Armee war total verantwortungslos und rücksichtslos", sagt er. Ein großer Teil der zivilen Opfer hätte vermieden werden können, "ohne dass Israel seine militärischen Ziele hätte zurückstecken müssen". Die Behauptung der Armee, man habe insgesamt nur 20 Bomben mit weißem Phosphor verschossen, wischt er vom Tisch. Er allein habe an einem einzigen Tag schon mehr als 20 Hülsen gefunden. Diese Waffen seien überall im Gazastreifen, in dichten Wohnvierteln und beim Beschuss des UN-Warenlagers im Zentrum von Gaza-Stadt eingesetzt worden - ein Kriegsverbrechen.

Verletzungen, die keiner bekannten Bombe zugeordnet werden können

Kein Arzt im Schifa-Hospital hatte jemals zuvor eine Phophorverbrennung gesehen. "Als die ersten Verletzten kamen, waren wir ahnungslos", sagt Nafiz Abu Shaban, Chef der Chirurgie, der in Schottland und den USA ausgebildet wurde. "Wir haben die Wunden wie normale Brandverletzungen behandelt." Am nächsten Tag hatten die Patienten unter dem Verband klaffende Brandlöcher im Körper, viele sind gestorben. Denn Phosphor brennt immer weiter, manchmal eine Woche lang, bis die Substanz aufgezehrt ist. "Bei anderen Verletzungen wissen wir bis heute nicht, woran wir sind", sagt er. Menschen wurden eingeliefert, denen Bomben gezielt Arme und Beine abgeschnitten hatten, ohne dass Blut geflossen ist. Der restliche Körper ist nahezu unversehrt, die Blutgefäße sind zugeschmort. Arme und Beine sind wie mit einem Messer abgetrennt.

Andere werden eingeliefert ohne das geringste Zeichen einer äußeren Verletzung. Wenn man den Körper öffnet, sind im Inneren alle Organe zerflossen , die Leber sehe aus, wie gebraten, sagt Chirurg Shaban. Wieder andere wurden operiert und schienen auf dem Weg der Besserung. Zwei, drei Stunden später fing ihr Körper plötzlich an hunderten Stellen an zu bluten - und die Menschen starben innerhalb von Minuten. "Wir sind die Versuchskaninchen der amerikanischen und israelischen Waffenindustrie", sagt Shaban.

Israel will Soldaten vor der UN und Menschenrechtsorganisationen schützen

Auch sonst wird die Liste der Vorwürfe immer länger. Human Rights Watch hat mehrere Fälle dokumentiert, wo Frauen und Kinder, die mit einer weißen Fahne aus ihrem Haus kamen, erschossen wurden. So starb in der Ortschaft Khuza im Süden eine Mutter, ihr Kind überlebte schwer verletzt. In Flüchtlingslager Jabalia exekutierten israelische Soldaten zwei Mädchen im Alter von zwei und sieben Jahren, ihre Mutter und ihre vierjährige Schwester überlebten mit Schusswunden. Für den Ex-Pentagon-Experten Garlasco aber ist vor allem der massive Einsatz von konventioneller Artillerie in Wohngebieten Indiz dafür, dass sich Israel Kriegsverbrechen hat zuschulden kommen lassen. Wo die 155mm Geschosse einschlagen, ist jeder innerhalb von 50 Metern tot, im Radius von 300 Metern fliegen die Schrapnells. Doch die Granaten können bis zu 50 Meter daneben gehen - in dicht besiedelten Stadtteilen bedeutet das ein Treffer im Nachbarhaus. Nach Angaben von Garlasco besitzt Israel auch moderne Satelliten-geleitete Geschosse, die auf drei Meter genau trifft, diese hätten "die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert".

Wer aber über präzise Artillerie verfügt und stattdessen weit streuende einsetzt, der macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig, sagt er. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon jedenfalls ist entschlossen, zumindest die Verantwortlichen für die Bombardierung der vier UN-Schulen und dem UN-Warenlager vor Gericht zu bringen. Zum wiederholten Male warf er Israel vor, im Gazakrieg mit exzessiver Gewalt vorgegangen zu sein. In Tel Aviv zeigen die schweren Vorwürfe von UN und Menschenrechtsorganisationen erste Wirkung. Am Wochenende stellte Premierminister Ehud Olmert seinen Soldaten schon einmal vorsorglich einen strafrechtlichen Persilschein aus. "Die Kommandeure und Soldaten, die in Gaza waren, sollten wissen, dass sie vollständig sicher sind vor den verschiedenen Tribunalen", sagte er. "Israel wird ihnen helfen und sie beschützen."

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