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Schimon Peres und Jassir Arafat am 3. November 2001.

© REUTERS

Nahost-Konflikt: Mit Peres stirbt auch ein Stück vom Prinzip Hoffnung

Schimon Peres träumte von zwei Staaten, von Ausgleich und Versöhnung. Keine Vision war ihm zu kühn. Heute haben sich alle eingerichtet im Status Quo. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Als der Philosophin Hannah Arendt im Jahr 1959 der Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg verliehen wurde, sprach sie in ihrer Dankesrede über die Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Ein Satz darin lautet: „In der Hoffnung überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht.“ Hoffnung und Furcht, entlang dieses Begriffspaares ließe sich auch die Geschichte Israels erzählen. Schimon Peres, der Letzte der großen prägenden Gründerfiguren des Landes – David Ben-Gurion, Golda Meir, Menachem Begin, Jitzchak Rabin –, verkörperte wie kein anderer die Hoffnung. Er träumte von einem neuen Nahen Osten, von zwei Staaten, von Ausgleich und Versöhnung. Keine Vision war ihm zu kühn, jeder Weg in die Utopie einen Versuch wert.

Das Bild, das sich als Symbol dafür ins Gedächtnis der Welt eingegraben hat, entstand im September 1993 im Garten des Weißen Hauses in Washington: Rabin, Peres und PLO-Chef Jassir Arafat reichten sich die Hände. Ein Jahr später bekamen sie den Friedensnobelpreis. Die PLO galt damals als Terrororganisation, Kontakte zu ihr waren nach israelischem Recht streng verboten. Doch Rabin und Peres ließen sich von zwei Überzeugungen leiten: Frieden schließt man nicht mit Freunden, sondern mit Feinden. Und: Wir führen den Friedensprozess, als ob es keinen Terror gäbe, und bekämpfen den Terror, als ob es keinen Friedensprozess gäbe.

Alte Weisheiten gelten schon lange nicht mehr

Solche Weisheiten gelten schon lange nicht mehr. Sie wurden von der Wirklichkeit, die auch Peres hatte überspringen wollen, nach und nach zertrümmert. Rabin-Ermordung, Re-Radikalisierung der Palästinenser, Libanonkriege, Gazakriege, Hamas, Hisbollah, Siedlungsbau, Irans Atomprogramm, Spaltung der Palästinenser, Bürgerkrieg in Syrien, Militärputsch in Ägypten. Das alles begünstigt den Triumph der Angst, den Rückzug vor der Wirklichkeit. Israel bleibt auf absehbare Zeit eine Besatzungsmacht, weil die Alternative – also die Befreiung von dem Fluch, ein anderes Volk zu beherrschen – wie ein unberechenbares Wagnis wirkt. Der Rückzug aus dem Gazastreifen mit all seinen misslichen Folgen dient als abschreckendes Beispiel.

Kurz nach dem Händedruck im Garten des Weißen Hauses hatte Peres, der belesene, geistvolle Prediger, die Lage im Nahen Osten mit den Dramen von Tschechow und Shakespeare verglichen. „Bei Tschechow liegt am Ende jeder kraftlos und verwundet am Boden; die Helden sind müde, aber lebendig.“ Das gefiel Peres. Denn bei Shakespeare „schwingen sie sich durch die Luft, in all ihrer Größe und Erhabenheit, aber am Ende sind alle tot“. Kraftlos, verwundet, müde, lebendig: Das beschreibt die Verfassung vieler Israelis und Palästinenser bis heute. Sie haben sich eingerichtet im Status quo, sind desillusioniert und misstrauisch gegenüber allem Teilungs-, Souveränitäts- und Friedenspathos.

Es ist kein Zufall, dass Peres seine beste Zeit in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte. Der Kommunismus war besiegt, die Mauer gefallen, der Friedensprozess hatte begonnen. Damals schien alles möglich zu sein, überall. Spätestens am 11. September 2001 endete die Phase der Euphorie. Was aber nicht endete, ist die Sehnsucht nach Seelen, die den Mut haben, die Wirklichkeit zu überspringen – und sei es zum Preis der eigenen Lächerlichkeit. Wenn einer wie Peres stirbt, stirbt auch ein Stück vom Prinzip Hoffnung.

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