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Politik: Napoleon: Retter der Nation

Das Leben schreibt die schönsten Drehbücher. Keinem Dichter wäre wohl ein rührenderes Ende für Kaiser Napoleon Bonaparte eingefallen als jenen trockenen Staatsmännern, die den einst mächtigsten Mann Europas nach seinem Debakel von Waterloo 1815 für den Rest seines Lebens nach St.

Das Leben schreibt die schönsten Drehbücher. Keinem Dichter wäre wohl ein rührenderes Ende für Kaiser Napoleon Bonaparte eingefallen als jenen trockenen Staatsmännern, die den einst mächtigsten Mann Europas nach seinem Debakel von Waterloo 1815 für den Rest seines Lebens nach St. Helena verbannten. Eine Tragödie wahrhaft antiken Ausmaßes - und eine einmalige Gelegenheit für den gestürzten Kaiser, an seiner eigenen Legende zu stricken.

Das "Martyrium" von St. Helena, so Johannes Willms in seinem Buch "Napoleon-Verbannung und Verklärung", wurde zum Ausgangspunkt einer groß angelegten Geschichtsklitterung. Ausgehend von den letzten sechs Lebensjahren Napoleons auf der wolkenverhangenen Atlantikinsel zeichnet der Autor den Mythos Bonapartes nach, der unter den veränderten politischen und sozialen Gegebenheiten der zweiten Republik zur politischen Kraft wurde und schließlich dessen Neffen Louis Napoleon, als Kaiser Napoleon III., an die Macht spülte.

Dass Napoleon I. kräftig an seiner Selbststilisierung arbeitete, ist seit den kenntnisreichen Studien des französischen Historikers Jean Tulard über den "Mythos des Retters" kein Geheimnis mehr. Bekanntlich machte Napoleon sich zum Verteidiger der Prinzipien der Französischen Revolution, zum Vorkämpfer des Liberalismus und zum Verfechter einer auf dem Nationalitätenprinzip bestehenden europäischen Mächteordnung. Im Lichte der Realpolitik betrachtet, konnte keiner dieser selbst gezeichneten Heiligenscheine bestehen.

Als Kaiser regierte Napoleon autoritär und diktatorisch, verwaltete das Land zentralistisch bis in den letzten Winkel hinein und verfocht eine aggressive Außenpolitik zum Ruhme der Nation und seiner selbst. Weshalb im kollektiven Gedächtnis Frankreichs die Einschränkung der politischen Freiheiten durch Napoleon gegenüber der Wahrung der sozialen Chancengleichheit als Erbe der Revolution weniger wog, kann auch Willms nicht richtig beantworten.

Als 1823 Las Cases, einer von Napoleons Weggefährten im Exil, achtbändiges "Mémorial de Sainte-Hélène" in Paris erschien, stieß es sofort auf breite Resonanz. Willms ist nach dem wenig ergiebigen ersten Teil seines Buches der langen "Inkubationszeit" des Bonapartismus auf der Spur, der zunächst nur ein diffuses Sammelbecken für alle von der Restauration der Bourbonen enttäuschten Unzufriedenen blieb. Ihm fehlte die politische Schlagkraft und die Umsetzung in eine Zukunftsvision. Erst Napoleons Neffe Louis Napoleon schmiedete aus dem Mythos des Onkels eine Doktrin. Der nach Macht und Würden strebende Sohn von Hortense Beauharnaise und Louis Bonaparte, der wegen politischer Umsturzversuche sechs Jahre lang in der Festung Ham an der Somme interniert war, sah mit der Revolution 1848 seine Stunde gekommen.

Der Sturz des Bürgerkönigs und die Errichtung der zweiten Republik brachte dem gemeinen Mann das allgemeine Wahlrecht und damit Louis Napoleon die Chance, sich die im Volk herrschende Napoleon-Verehrung zu Nutze zu machen. In mehreren politischen Schriften hatte er sich der sozialen Frage zugewandt, sich zum Anwalt der Besitzlosen ebenso wie zum Verteidiger von Ordnung und Autorität gemacht. Eine Regierung auf demokratischer Grundlage, in der der Staatschef die alleinige Regierungsgewalt besaß, sollte für stabile Verhältnisse sorgen. Hier lebte die schon vom alten Onkel gepflegte Finesse fort, sich mit Hilfe von Plebisziten eine breite Legitimation zu verschaffen - sogar für Verfassungsbrüche.

Das Kalkül Louis Napoleons ging auf. Er wurde in die Nationalversammlung gewählt und im Dezember 1848 mit überragender Mehrheit zum ersten Präsidenten der zweiten Republik gekürt. Einmal an der Macht, gab der "kleine Napoleon", wie der Dichter Victor Hugo ihn verspottete, das Heft des Handelns nicht mehr aus der Hand. Da er die Begrenzung der präsidialen Amtszeit auf vier Jahre nicht hinzunehmen bereit war, wagte er am 2. Dezember 1851 den Staatsstreich, löste die Nationalversammlung auf und stellte das allgemeine Wahlrecht wieder her. Das darauf folgende Plebiszit billigte den Putsch mit über sieben Millionen Ja-Stimmen. Louis Napoleon blieb mit dem Willen des Volkes an der Macht und ließ sich 1852 zum Kaiser krönen. Wieder war ein Bonaparte der Retter der Nation. Die Widersprüche seiner Herrschaft konnte Napoleon III. allerdings auch mit dieser Aura nicht auflösen. Das Zweckbündnis aller Unzufriedenen brach bald auf, und insbesondere die intellektuelle Elite sah sich von seinem autoritären Regime abgestoßen.

Das Erbe des Bonapartismus ist für Willms eine eigentümliche Verbindung von Demokratie und autoritärer Herrschaftspraxis, die lang fortwirkte und sowohl in General Charles de Gaulle wie dem nicht weniger selbstherrlich regierenden Sozialisten Mitterrand später Nachfahren fand. Auf die im 19. Jahrhundert immer noch ungebildete Masse des Volkes wirkte sich die auf den ersten Blick widersprüchliche Symbiose durchaus positiv aus, da sie langsam zur Bildung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins beitrug.

Dort, wo die Ausbildung eines politischen Bewusstseins unterblieb, wie in Preußen und im Deutschen Reich, war die Anfälligkeit der Gesellschaft für radikale Ideologien wie Faschismus und Kommunismus ungleich größer. Für Willms erklärt dies nicht weniger als die Immunisierung der französischen Gesellschaft gegen die "Versuchungen" des 20. Jahrhunderts.

Karin Schneider-Ferber

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