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Der Mauerfall brachte ein neues Selbstverständnis.

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Narrative und Identität: Was uns Deutsche zusammenhält

Wir sollten uns vor allem gegen alles und alle wehren, die dieses weltoffene und tolerante Land abgrenzen wollen, die wieder „deutsche Wege“ in der Politik fordern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Europa braucht ein neues Narrativ – so bangen Politiker vieler EU-Staaten fast schon verzweifelt angesichts von Brexit und anderen Zerfallserscheinungen um die Einheit des Kontinents. Aber was ist eigentlich das deutsche Narrativ? Was hält dieses Land zusammen? Was ist gemeinsame Überzeugung, was gehört zum unbestrittenen Katalog der Erinnerungen, die das Fundament der Nation bilden? Sage niemand, die Frage sei überholt. Der Historiker Herfried Münkler hat 2009 in seinem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ erklärt, warum Deutschland sich erst im 19. Jahrhundert seine Begründungsmythen selber aus Bruchstücken der Vergangenheit schuf, ganz anders als Frankreich, England oder die Vereinigten Staaten, die sich längst auf ruhmreiche historische Ereignisse berufen konnten.

Und fünf Jahre später, 2014, erinnerte Neil MacGregor anlässlich einer grandiosen Ausstellung in London daran, dass dieses Deutschland sich, obwohl 140 Jahre lang dominierende Macht Zentraleuropas, in seiner Geschichte weder der eigenen Grenzen noch der Identität stiftenden Städte jemals sicher sein konnte.

Unsere nationalen Legenden sind in der Tat im Laufe des 19. Jahrhunderts als einzelne Ereignisse mehr oder minder willkürlich der Vergangenheit entlehnt und zu einem wirkungsmächtigen Kolossalgemälde zusammengefügt worden, von Hermann dem Cherusker über Barbarossa und den Kyffhäuser, um nur drei dieser bildungsbürgerlichen Orientierungspunkte zu nennen, mit denen sich heute kaum mehr die höheren Schulen befassen. Vergangenheit eben. Die erhebenden Momente der Geschichte fehlen, keine Französische Revolution, keine Magna Charta, keine Boston Tea Party. Wenn es da nicht den 20. Juli 1944 gegeben hätte, wären die 31 Jahre zwischen 1914 und 1945 eine Aneinanderreihung von Niederlagen, die im Zivilisationsbruch des Massenmordes an den europäischen Juden einen entsetzlichen Kulminationspunkt hatten.

Deutsche Wege?

Was Deutschland danach einte, das würdigen Münkler wie MacGregor, war das am Ende freilich auch durch ausländische Historiker wie Daniel Goldhagen erzwungene Eingeständnis einer kollektiven Schuld. Bis zur friedlichen Revolution in der DDR und dem Mauerfall am 9. November 1989, diesem Fanal des Freiheitswillens der Ostdeutschen, fanden die Deutschen-West Selbstbestätigung allenfalls durch den Wiederaufbau nach dem Krieg, das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder. Made in Germany, VW, die Mark, Siemens, Deutsche Bank – das war es, was wir anderen Ländern vorauszuhaben glaubten. Das war einmal. An der weitgehenden Zerstörung dieses Nimbus haben skrupellos die Nachfolger jener mitgewirkt, die ihn schufen. Korruption im ganz großen Stil, Manipulationen, pervertierte Ingenieurskunst – auch das, so haben wir schmerzlich erkannt, sind heute deutsche Großtaten.

Was bedeutet das für den Ruf Deutschlands in der Welt und für unser eigenes Bild von Deutschland? Wir sollten uns vor allem gegen alles und alle wehren, die dieses weltoffene und tolerante Land abgrenzen wollen, die wieder „deutsche Wege“ in der Politik fordern und uns etwas von nationaler Selbstbestimmung erzählen, als seien wir bislang von fremden Mächten geführt worden. Denn das eine Narrativ lebt und trägt immer noch – das Glück der Rückkehr in den Kreis zivilisierter Nationen.

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