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Ein gemaltes DDR-Ländersymbol im Grenzmuseum Schifflersgrund neben einem Grenzpfahl zu sehen.

© dpa

Nationalstaaten und Europäische Union: Das Ende der Geschichte war gestern

Europa war einst das Experimentierfeld konkurrierender geschlossener Gesellschaften – von Faschismus und Kommunismus. Beide Experimente sind gescheitert. Und was kommt jetzt? Ein Essay.

Vor 71 Jahren wurde ein Bestseller des 20. Jahrhunderts erstveröffentlicht und seitdem in fast alle Sprachen dieser Welt übersetzt, gelesen, gelehrt, heiß debattiert, mancherorts verboten. Ich spreche nicht von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, das im selben Jahr erschienen ist, sondern von Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Darin rechnet er mit den Gedankensystemen von totalitären Gesellschaften ab und beschreibt als Gegenbild eine „Offene Gesellschaft“, die nicht am Reißbrett geplant, sondern sich pluralistisch in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen evolutionär und langsam fortentwickelt.

Die Veröffentlichung wirkte 1945 als politisches Signal, für die Offene Gesellschaft zu kämpfen, wenn man nicht von deren Feinden in geschlossene Gesellschaften weggesperrt werden will. Auch wenn seitdem eine Menge Geschichte passiert ist, hat das Buch von Popper gerade heute wieder eine überraschende Relevanz.

Ich verstehe Popper intuitiv. Ich habe die Hälfte meines Lebens in einer real existierenden geschlossenen Gesellschaft verbracht. Da kannte ich Popper noch nicht, hatte nichts von ihm gelesen. Die geschlossene Gesellschaft der DDR bedeutete für mich überschaubarer Alltag, kaputte Städte, schlechte Luft, gefühlte wie reale Überwachung, mentale und physische Grenzen bis hin zu Mauern, totale Planungswut, Angst vor der Jugend, ihrer Musik und Mode, Uniformen aller Art, Kriechertum und Lüge, die Diktatur der Mittelmäßigen aus Wandlitz, Pseudo-Demokratie und schlechte Wisent-Jeans aus dem VEB Jugendmode. Wie eine offene Gesellschaft klang, konnte man damals im West-Radio hören. „Ist ja alles so schön bunt hier“, sang Nina Hagen, nachdem sie den Sprung über die Mauer in den Westen geschafft hatte.

1984 las ich George Orwells gleichnamiges Buch. Ich war traumatisiert von der Brutalität, mit der dieser eine geschlossene, totalitäre Gesellschaft beschrieb, die futuristisch schien und doch so gespenstisch nah dran an der Gesellschaft, in der ich lebte. Im Hintergrund lief passend der Song „Doubleplus Good“ von den Eurythmics. Orwell hat die geschlossene Gesellschaft bildlich und zum Fürchten beschrieben. Popper hat sie analysiert und daraus die Notwendigkeit für die offene Gesellschaft abgeleitet. Orwell und Popper gehören für mich zusammen.

Dann kam das Jahr 1989 und mit ihm der Mauerfall, geschlossene Gesellschaften fielen in rasender Geschwindigkeit wie die sprichwörtlichen Kartenhäuser in sich zusammen. Die Offene Gesellschaft war dabei, die Welt zu erobern. Demokratien wurden gegründet oder wiedergegründet, neue Verfassungen wurden verfasst, vollgestopft mit allen Extras moderner demokratischer Regierungsführung, kommunistisches Volkseigentum wurde kapitalisiert, Grenzen wurden geöffnet für Handel und Menschen, Minderheiten konnten aus dem Schatten heraustreten.

Eine Gesellschaft, in der man demokratisch wählen und abwählen kann

Deutschland wurde, am 3. Oktober 1990, nach über 40 Jahren physischer und ideologischer Teilung, wiedervereinigt. Europa wurde wieder vereint. Das alles mit einer Geschwindigkeit, die eher revolutionär als evolutionär war. Laut dem amerikanischen Gelehrten Francis Fukuyama war dies „Das Ende der Geschichte“, der ewige Triumph von liberaler Demokratie und Kapitalismus, die totale Offene Gesellschaft.

Der real existierende Sozialismus, Karl Popper, George Orwell, die Eurythmics, Nina Hagen haben in mir verinnerlicht, was eine geschlossene Gesellschaft ist. Aber was ist eine Offene Gesellschaft? Ist das einfach nur der Umkehrschluss? Die Definition der Offenen Gesellschaft lebt zu großen Teilen von der Angst vor der geschlossenen Gesellschaft. Trotzdem, für mich persönlich funktioniert der Umkehrschluss eigentlich ganz gut. Eine Offene Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der ich die Freiheit habe, eine eigene Meinung zu haben und diese sagen zu können, ohne mich vor Freunden und anderen zu fürchten, die einen dauernd bespitzeln; eine Gesellschaft, in der man sich frei bewegen, in der man reisen kann, emigrieren, und wiederkommen oder bleiben kann; eine Gesellschaft, die Andersdenken zulässt, auch weil es manchmal zum „next big thing“ führen kann und manchmal nur ein Fehler ist; eine Gesellschaft, die auf die Werte baut, die sie sich über tausende Jahre in tausenden kleinen Schritten erarbeitet hat, diese dauernd überprüft und weiterentwickelt; eine Gesellschaft, die sich offen eingesteht, dass das Leben nicht geradlinig, sondern mit vielen nützlichen Fehlern gepflastert ist, dass man mit Imperfektion leben kann und sollte, denn diese erzeugt die Energie, die uns vorantreibt, zu einer immer weniger imperfekten Welt; eine Gesellschaft, in der man demokratisch wählen und abwählen kann, eine Gesellschaft, die Gemeinschaft bietet, wenn es darauf ankommt. Eine Gesellschaft, die permanent Entwicklungsland ist.

Im 20. Jahrhundert war Europa das zentrale Experimentierfeld konkurrierender geschlossener Gesellschaften, des Faschismus und des Kommunismus. Fast jede Familie in Europa hat in der einen oder anderen Form dieser geschlossenen Gesellschaften gelebt, manchmal auch in beiden, wie in Ostdeutschland.

Beide Experimente sind gescheitert. Geblieben und gestärkt hervorgegangen aus diesem Clash sind offene Gesellschaften, und die Europäische Union als deren modernstes Modell. Hatte nicht Karl Popper schon vorausgesagt, dass „der Nationalstaat in einer Offenen Gesellschaft lediglich ein momentanes Übel ist, das langfristig überwunden werden kann“. Durch Europa. So kann man es sehen. So haben es viele lange gesehen. So habe ich es gesehen. Offene Gesellschaft und Europa gehörten nun scheinbar untrennbar zusammen. Die Europäische Union wurde über die Methode der kleinen Schritte geschaffen. Jeder dieser Schritte hatte ein begrenztes Ziel und einen begrenzten Zeitrahmen. So wurde die Europäische Union gebaut, Schritt für imperfekten Schritt. Das ist die Methode sozialer Veränderung, die zur Offenen Gesellschaft passt – und zu Europa. Und diese Methode hat Europa gutgetan in den letzten 70 Jahren. Für manche war die EU gar der Prototyp einer globalen Offenen Gesellschaft.

Der Blueprint für die Entwicklung sind die Kopenhagener Kriterien

Die EU ist eine zivilisierende Kraft. Am Anfang war es ein kleiner Klub von sechs von zwei Weltkriegen traumatisierten Ländern – aktuell sind es 28 Mitglieder. Von diesen hat mehr als die Hälfte noch vor 40 Jahren in geschlossenen Gesellschaften gelebt, entweder faschistischen wie in Spanien und Portugal oder kommunistischen wie im Osten. Mehr als ein Drittel der derzeitigen EU hat sich erst vor 25 Jahren in die Offene Gesellschaft aufgemacht. Für all diese war die Europäische Union der essenzielle Anker ihrer postdiktatorischen Entwicklung.

Der Blueprint für diese Entwicklung sind die Kopenhagener Kriterien. Diese regeln nicht nur die organisatorischen Fragen des Beitritts, Sachen wie Fischerei und Landwirtschaftsquoten, die Form von Bananen und Traktorensitzen, sondern vor allem auch Fragen guter, demokratischer Regierungsführung. Sie sind der verschriftliche Wertekanon der Europäer geworden. Das ist die geheime Verfassung der EU. Wer hier reinwill, muss da durch. Jeder Beitrittskandidat muss sich an den Kopenhagener Kriterien messen lassen und seine Verfassung, Gesetze, Institutionen, Bürokratie anpassen, idealerweise nicht nur auf Papier. Die Kopenhagener Kriterien sind die europäische Zauberformel zur Weltverbesserung.

Die Europäische Union als natürliche Verkörperung der Offenen Gesellschaft, die den Nationalstaat überwindet, sich dank der Kopenhagener Zauberformel immer weiter friedlich ausbreitet und zu einem Modell für eine globale Offenen Gesellschaft wird: Ist das die Zustandsbeschreibung von Europa heute, 25 Jahre nach dem angeblichen Ende der Geschichte?

Der Nationalstaat erlebt ein unerwartetes Revival. Die europäische Zauberformel hat scheinbar nur kurzzeitig gewirkt und so manche Länder, die sie so streberhaft angewendet haben, sind jetzt auch die, die ihre Gesellschaften schließen, mit Zäunen, Polizisten, kontrollierten Medien und hörigen Verfassungsgerichten. Die EU streitet sich, kommt selten auf eine gemeinsame Linie. Statt zur Erweiterung kann es zum ersten Mal zu einer realen Verkleinerung kommen. Die offenen Märkte laufen auch nicht mehr so rund. Im Süden ist fast die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos. Und in fast allen europäischen Ländern ist die Ungleichheit stetig angestiegen. Auch in Deutschland besitzen die oberen zehn Prozent zwei Drittel allen Vermögens. Feinde der Offenen Gesellschaft sitzen in fast allen europäischen Ländern in den Parlamenten und in manchen Ländern gar in der Regierung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bald das Land von Asterix und Obelix von einer bekennenden Feindin der Offenen Gesellschaft regiert wird.

Hat die Offene Gesellschaft ihre besten Tage hinter sich? Kann die EU bestehen, wenn ihre Mitglieder ihre Gesellschaften abschließen? Oder kann gar die Europäische Union zu einer „Union der Geschlossenen Gesellschaften von Europa“ werden? Wird man über die letzten 70 Jahre mal nostalgisch als das „Liberale Zeitalter“ oder das „Verlorene Zeitalter der Offenen Gesellschaft“ reden?

Nicht so vorschnell.

Erstens, wir sind nicht am Ende der Geschichte. Nicht am Ende, wo alles gesagt und getan ist und wir im europäischen Paradies leben. Und auch nicht am Ende von allem Guten. Nein, wir sind wieder mitten in der Geschichte. Wie immer. Weil Geschichte so ist. Und weil auch die Offene Gesellschaft so ist. Gemütlich ist es nicht, mittendrin in der Geschichte. Aber das hat ja auch keiner behauptet, außer Fukuyama. Und der meinte es ja eigentlich auch nicht so, sagt er jetzt. Man muss dranbleiben an der Geschichte, sonst kann sie kippen. Machen wir was draus.

Zweitens, sagen wir es doch ganz laut, geschlossene Gesellschaften sind out. Wir haben sie zur Genüge getestet, nicht nur unter Laborbedingungen, sondern im realen Leben und in Europa gleich als Massenexperiment. Das Experiment war nicht erfolgreich. Wir haben nachgewiesen, dass geschlossene Gesellschaften nicht viel Gutes, aber wahnsinnig viel Schlechtes bringen. Da müssen wir nicht noch mal durch. Ein geschlossenes Deutschland hab ich schon mal erlebt, das ist nicht mein Land. Und ein geschlossenes Europa ist nicht mein Europa.

Europas Infrastruktur ist nicht perfekt, aber auch nicht nackt und wehrlos

Drittens, Geschichten erzählen hilft. Karl Popper hat die geschlossene Gesellschaft erforscht und darüber einen Weltklassiker geschrieben, George Orwell hat mit „1984“ dazu einen passenden Roman geschrieben, Apple hat 1984 einen ikonischen Werbespot gemacht und die Eurythmics haben die geschlossene Gesellschaft in einem Album vertont. Die Geschichte der geschlossenen Gesellschaft ist erzählt worden. Aber wo sind die Geschichten der Offenen Gesellschaft? Wie kann man diese erzählen, sodass sie Menschen berühren, inspirieren, mitreißen? Geht das? Oder müssen wir das Gespenst der geschlossenen Gesellschaft weiter so lebhaft an die Wand malen, dass die Offene Gesellschaft als die ganz natürliche Alternative erscheint?

Viertens, auch die Europäische Union ist nicht die ultimative Wahrheit. Im Popper’schen Sinne sollten wir sie dauernd testen, experimentieren, falsche Theorien aussieben und in diesem evolutionären Prozess der Europäischen Wahrheit immer näher kommen, ohne diese aber jemals wirklich erreichen zu können. Das muss reichen. Und vielleicht gibt es ja auch andere Wege, das ursprüngliche Ziel zu erreichen, nämlich Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa zu schaffen. Wenn ja, her damit. Bis dahin scheint mir die EU der bisher am besten funktionierende Weg dahin zu sein. Die Alternativen jedenfalls, die jetzt von den Neo-Nationalen vorgeschlagen werden, sind doch eh nur die alten Dinge, die sich nun wirklich als fatal herausgestellt haben für Europa.

Fünftens, die Offene Gesellschaft hat in Europa eine Infrastruktur. Sie ist nicht perfekt, aber auch nicht nackt und wehrlos. Europa ist zusammengeflochten durch Institutionen, Verträge, Meetings, Vereine, Verbände, Autobahnen, EasyJet, Handel, Banktransfers, die Champions League und Eurovision. Solch ein Geflecht hält eine Weile, auch bei schlechtem Wetter.

Sechstens, die Offene Gesellschaft braucht Freunde. Wer später nicht nur nostalgisch über das verlorene liberale Zeitalter schwärmen will, sollte jetzt etwas tun, damit sich die neo-nationalen Feinde der Offenen Gesellschaft nicht einfach deshalb durchsetzen, weil die anderen in ihren bequemen italienischen Couchgarnituren sitzen geblieben sind und sich Kochbücher vorgelesen haben. Die Offene Gesellschaft hat Freunde, sie sind sogar die Mehrheit. Aber sie müssen sich auch engagieren. Das Ende der Geschichte war gestern.

- Andre Wilkens ist Autor und Mitbegründer der Initiative „Die Offene Gesellschaft“. Der Aufsatz ist Teil des Essaybandes „Die Offene Gesellschaft und ihre Freunde“, der am 27. Oktober im S. Fischer Verlag erscheint.

Andre Wilkens

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