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Das wäre der Idealfall. Geheimdienste wissen, dass eine Rakete abgefeuert werden soll, und das US-Kriegsschiff USS Cole greift ein , um sie zu zerstören.

© dapd

Nato-Raketenschild: Oben im All knallt es

Von Ramstein aus wird der geplante Raketenschild der Nato gesteuert. Bisher ist er allerdings noch nicht allzu wirksam.

Der Kampfjet weist den Weg. Schräg in einer Linkskurve hängend haben sie ihn vor dem modernen Bürogebäude aufgebockt, in dem sich das Nato-Hauptquartier für die Luftverteidigung befindet. Erst geht es durch die Sicherheitsschleuse, danach hinunter in den Keller. So ein Kommandostand muss unterirdisch sein – auch in Ramstein.

Hier lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des westlichen Militärbündnisses besichtigen. Aus Hitlers Autobahn machten die Alliierten nach Kriegsende einen Flugplatz, auf dem nach und nach jene Soldaten, Panzer und Atombomben eintrafen, die in der Bundesrepublik stationiert wurden, um an der vordersten Front des Kalten Krieges der Sowjetunion Paroli zu bieten. Nach dem Mauerfall, speziell dem 11. September 2001, als die Amerikaner und ihre Verbündeten Krieg gegen die Drahtzieher in Afghanistan und später gegen den Irak führten, ist Ramstein zum bedeutendsten Zwischenstopp auf dem Weg in den Mittleren Osten geworden. Tag für Tag landet mindestens ein Flieger mit Verwundeten vom Hindukusch auf der US-Airbase, die im nahen Militärhospital Landstuhl behandelt werden. Und künftig soll auch die Gefahr aus der Luft von Ramstein aus bekämpft werden. Hier befindet sich der Kommandostand des neuen Nato-Raketenabwehrsystems. Die 28 Staats-und Regierungschefs der Allianz haben es bei ihrem Gipfel in Chicago offiziell in Betrieb genommen. Von Jahr zu Jahr soll das System weiter ausgebaut werden; Ende des Jahrzehnts sollen alle Menschen in Nato-Staaten unter einem Abwehrschirm leben.

In dem weiß getünchten Saal ein paar Meter unter der Erde reiht sich ein Computerarbeitsplatz an den anderen. Beamer werfen große Europakarten an die Wand. Die eine zeigt das aktuelle Wetter, die andere alle Flugbewegungen über dem Kontinent. An drei Stellen blinkt es rot. Das liegt meist daran, dass ein Jet kein Signal aussendet, oder der Pilot vergessen hat, einen Flugplan einzureichen. Im Notfall steigen sogenannte Alarmrotten auf – Jets, die über Europa verteilt in Bereitschaft sind.

Das Nato-Hauptquartier für die Luftverteidigung in Ramstein.
Das Nato-Hauptquartier für die Luftverteidigung in Ramstein.

© Promo

Fünf Buchstaben stehen an der Tür des kleinen Kabuffs im hinteren Teil des Saales: BMDOC. Das steht für Ballistic Missile Defense Operation Cell, Kommandostand für das Raketenabwehrsystem. Sechs Arbeitsstationen gibt es. Ein Computermonitor zeigt die Karte Mitteleuropas mit einem kleinen roten Fleck darauf. Er hat die Form einer Ellipse – dort wird die feindliche Rakete den Berechnungen des Systems zufolge einschlagen. „In so einem Fall muss alles sehr schnell erfolgen“, erklärt der Generalleutnant Friedrich Wilhelm Ploeger, stellvertretender Befehlshaber in Ramstein, „bei Raketen reden wir nicht von Stunden, sondern von Minuten.“ Satelliten mit Infrarotkameras, die den Abschuss registrieren, leiten die Daten weiter an die Radarstation Kürecik im Südosten der Türkei, die dann ihre Schüssel entsprechend ausrichtet und genauere Bahndaten sowie Einschlagzonen berechnen kann. Da im Ernstfall wenig Zeit bleibt, ist Ploegers erster Befehl klar definiert: Ohne weitere Diskussion wird abgeschossen, was in Raketenform anfliegt.

Das ist die Aufgabe der USS Cole, jenem US-Zerstörer, auf den Ende 2000 im Hafen der jemenitischen Hauptstadt Aden ein Anschlag verübt wurde, bei dem 17 Soldaten starben. Inzwischen kreuzt das Schiff durchs Mittelmeer: Sie hat SM31a-Interzeptoren geladen. Die Technik an Bord kann einen Abfangpunkt außerhalb der Atmosphäre berechnen. Dann können in der Theorie selbst atomar bestückte Raketen im All abgeschossen werden. Zwei solche Atomraketen stehen symbolisch im Garten einer Brüsseler Villa. Der russische Nato-Botschafter Dmitri Rogosin hat zwei Bäumchen hinter seiner Residenz gepflanzt. Die Pappeln heißen auf Russisch „Topol“ – wie die mit nuklearen Sprengköpfen bestückten Interkontinentalraketen SS-25 und SS-27 im Arsenal der russischen Armee. Sie sollen, so Rogosin bei seinem Abschied, die Nato daran erinnern, wie viele Megatonnen Sprengkraft gegen sie gerichtet sind.

Ärger gibt es im Verhältnis der westlichen Allianz mit dem alten Rivalen, seit der Raketenschirm noch einer der Soloritte von US-Präsident George W. Bush war. So bedrohlich wie in den vergangenen Monaten klangen die Meldungen aus Moskau bisher nicht. Im Herbst wies der damalige Präsident Dmitri Medwedew die Armee an, Gegenstrategien zu entwickeln – inklusive einer Stationierung von Atomraketen in der vom Nato-Mitglied Polen umgebenen Exklave Kaliningrad. Erst am Monatsanfang, da die Inbetriebnahme des Nato-Systems nahte, kündigte Generalstabschef Nikolai Makarov unverblümt dessen Zerstörung an.

Seit Ende des Kalten Krieges ist die Nato Stück für Stück an die Grenzen der Überreste des Sowjetimperiums herangerückt. Viele ehemalige Warschauer-Pakt- Staaten wie Polen, Tschechien oder Rumänien gehören heute zur Allianz, die einst der Gegner war. Direkte Nachbarn wie die Ukraine oder Georgien haben Nato-Ambitionen, die freilich gerade auf Eis liegen. Im Süden Russlands wird auch nach dem geplanten Abzug aus Afghanistan Ende 2014 eine große Nato-Nachfolgemission am Hindukusch verbleiben. In Südkorea und Japan sind ohnehin Amerikaner stationiert. „Wir“, sagt Nikolay Korchunov, der neue EU-Botschafter, „fühlen uns umzingelt.“ Er geht hinaus in den Garten mit den zwei Pappeln, die das Gleichgewicht des Schreckens symbolisieren.„Ob wir wollen oder nicht, die Abschreckung bleibt ein relevanter Faktor im Bemühen um Frieden und Sicherheit.“ Der Nato-Schirm könne „das strategische Gleichgewicht gefährden“. Aber so weit ist es noch lange nicht: „Die erste Phase der Raketenabwehr an sich stellt für uns noch keine Bedrohung dar“, stellt Korchunov klar, „die dritte und vierte Phase, die noch kommen sollen, aber wohl. Und mögliche Phasen fünf oder sechs nach 2020 machen die Lage noch unsicherer.“ Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, von Moskauer Seite „entmutigt“, Kremlchef Wladimir Putin nach Chicago einzuladen, platzt fast der Kragen: „Wir haben keinerlei Absicht, Russland anzugreifen“, hat sich Dänemarks früherer Premier ereifert, „es geht über meine Vorstellungskraft hinaus, wie Menschen so denken können.“

Zurück im Pfälzer Wald, wo sie mit Phase eins tatsächlich nur bedingt abwehrbereit sind. Generalleutnant Ploeger erklärt, was Ballistic Missile Defense schon kann und vor allem was nicht: So könnte eine ohne Vorwarnung abgeschossene Rakete nicht aufgehalten werden; die Militärs sind auf Geheimdienstinformationen angewiesen. In einem solchen Szenario würde die USS Cole an eine Position beordert, von wo sie eine anfliegende Kurz- oder Mittelstreckenwaffe bekämpfen könnte. Bis sie an Ort und Stelle ist, könnten Tage vergehen. Unter dem Schirm sind am Anfang nur die westliche Türkei und Teile Griechenlands. Im Militärdeutsch ist daher nur von einer „Anfangsbefähigung“ die Rede. Ploeger, 45 Jahre bei der Bundeswehr, scherzt: „Das ist nicht Phase eins, eher Phase 0,1.“

Im Brüsseler Nato-Hauptquartier halten sie die russischen Sorgen für unbegründet. „Die haben so viele Raketen mit Mehrfachsprengköpfen – was sollten ein paar Interzeptoren da ausrichten?“ fragt ein hochrangiger Nato-Offizieller, der schon lange am Thema arbeitet: „Es ist zahlenmäßig unmöglich, ihr strategisches Abschreckungspotenzial zu neutralisieren.“ Das Angebot der Nato zur Zusammenarbeit ist erneuert worden: Informationen über einen Raketenabschuss könnten geteilt, die Abwehrmaßnahmen zwischen Ramstein und Russland koordiniert werden. Moskau aber beharrt auf einem gemeinsamen System mit voller Mitsprache oder einer völkerrechtlich bindenden Nichtangriffsgarantie. „Das hat keine Chance“, heißt es dazu mit Verweis auf Washington, „US-Präsident Barack Obama würde von den Republikanern im Kongress überfahren werden.“ Wenn überhaupt, sagt eine hochrangige Diplomatin, geht etwas nach den Wahlen im November: „Putin weiß, dass sie sich jetzt erst einmal damit abfinden müssen.“

Ramstein ist bereit. Zumindest die neuen militärischen Abzeichen, die die Raketenabwehrleute am Oberarm tragen, sind rechtzeitig fertig geworden. Es zeigt den roten Schweif einer Rakete. Und weit oben im All – direkt neben dem Nato-Symbol – da knallt es.

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