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Politik: Negative Stimmen

Kaum reformiert landet das neue Wahlrecht wohl gleich wieder vor Gericht

Von Robert Birnbaum

Berlin - Die Opposition fand starke Worte. Als „Anschlag auf die Demokratie“ geißelte Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck das neue Wahlgesetz, als „verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar“ stufte es der SPD-Kollege Thomas Oppermann ein. Die starken Worte sind indes nur konsequent – dass SPD und Grüne vor das Verfassungsgericht ziehen wollen, war schließlich schon klar, bevor Union und FDP am Donnerstagabend im Bundestag die umstrittene Novelle mit ihrer Mehrheit durchsetzten. Ob die Opposition beim Gang nach Karlsruhe Chancen auf einen Sieg hat, ist umstritten. Lohnen könnte er sich für sie aber allemal.

Das neue Wahlrecht für den Bundestag war nötig geworden, weil das Verfassungsgericht 2008 das sogenannte negative Stimmengewicht als unzulässig eingestuft hatte. In seltenen Fällen konnte es bisher passieren, dass ein Wähler mit seiner Zweitstimme seiner Wunschpartei im Ergebnis einen Sitz im Bundestag gekostet hat. Auslöser des paradoxen Effekts war das Verrechnungsverfahren von Überhangmandaten über Landeslisten hinweg.

Die Koalition glaubt ihn jetzt beseitigt zu haben, indem sie diese Verknüpfung von Landeslisten auflöste. Eine neue Reststimmen-Formel soll zugleich für ausgleichende Gerechtigkeit in Fällen sorgen, in denen Parteien in mehreren Bundesländern knapp an einem zusätzlichen Mandat vorbeischrammen.

Ob dieses neue Wahlrecht das negative Stimmgewicht wirklich so weit ausschließt, dass es praktisch zu vernachlässigen ist, ist allerdings strittig. Union und FDP haben das Innenministerium rechnen lassen, das zum Ergebnis kam, das neue Recht erfülle die Anforderungen. Externe Fachleute werfen der ministerialen Rechnung vor, nicht alle relevanten Randbedingungen berücksichtigt zu haben – sie kommen zu dem Schluss, das neue Recht sei unter Umständen noch problematischer als das alte. Nachrechnen wird das also demnächst das Verfassungsgericht müssen.

Bei der Klage in Karlsruhe geht es freilich nicht nur um mathematisch-juristische Feinheiten. Der Opposition ist in Wahrheit etwas anderes an der Koalitionsvorlage ein Dorn im Auge: Union und FDP haben die Überhangmandate nicht angetastet. Formal war das nicht nötig; das Urteil von 2008 wendet sich ausdrücklich nur gegen das „negative Stimmgewicht“. Sollte sich freilich erweisen, dass diese Abnormität auch nach der jetzigen Neuregelung nicht beseitigt ist, bliebe wohl nur noch ein Eingriff bei den Überhängen als Radikalkur übrig.

Die scheut vor allem die Union – aus schlichten Gründen: Im Moment profitieren CDU und CSU mehr als alle anderen von Überhängen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Wahlkreise direkt gewinnt als ihr nach Zweitstimmen zustünden. Das könnte zum Beispiel für die CSU künftig hochinteressant werden – die Zeiten ihrer absoluten Mehrheit sind vorbei, aber stärker als SPD und Grüne ist die Partei in Bayern immer noch fast überall.

Das Verfassungsgericht hat diese Überhänge im Prinzip ebenso gebilligt wie die Tatsache, dass das Bundesrecht keine Ausgleichsmandate vorsieht. Die Karlsruher Richter haben zwar in früheren Urteilen eine – frei gegriffene – Fünf-Prozent-Hürde verhängt: Wenn die Zahl der zusätzlichen Mandate einer Partei diese Marke übersteige, werde die Sache demokratisch problematisch. Aber diese Hürde ist noch nie gerissen worden. Wer die Überhangmandate juristisch kippen will, braucht einen anderen Hebel. Die Kuriosität des „negativen Stimmgewichts“ könnte ihn liefern.

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