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© AFP

Nelson Mandela: Der Diener des südafrikanischen Volkes

Vor 20 Jahren wurde Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen – und eine neue Epoche begann.

Wenn sie an den 11. Februar 1990 zurückdenkt, verspürt Cheryl Carolus noch immer diesen Zwiespalt aus höchstem Glück und schlimmer Panik. „Ehrlich gesagt, es war das reinste Chaos“, sagt sie in der Rückschau auf das Ereignis, mit dem vor 20 Jahren in Südafrika eine neue Zeitrechnung begann. Erst am Vortag hatten sie und ihre Mitstreiter in der Anti-Apartheids-Organisation „United Democratic Front“ (UDF) erfahren, dass Nelson Mandela, viel früher als erwartet, bereits am nächsten Tag von der weißen Regierung um Präsident Frederik Willem de Klerk in die Freiheit entlassen würde. Als führendes Mitglied der UDF, dem internen Flügel von Mandelas am Kap verbotenen Afrikanischen Nationalkongress (ANC), sollte Carolus sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmern. In Windeseile wurden Flugblätter gedruckt. „Wir fühlten uns total überwältigt, aber wir wollten zumindest ein paar Tausend Menschen mobilisieren“, sagt sie. „Denn wir alle dachten: Mandela kann unmöglich aus dem Gefängnis kommen – und kaum jemand ist da.“

Carolus hätte sich nicht sorgen müssen. Der 11. Februar 1990 war ein drückend heißer Sonntag – und ganz Kapstadt war auf den Beinen. Tausende strömten schon am frühen Morgen in das verträumte Winzerdorf Paarl bei Kapstadt, wo Mandela in einem Gästebungalow des örtlichen Gefängnisses die letzten Monate seiner langen Haftjahre verbracht hatte. Die enge Straße, die zum Gefängnis führte, war an dem Morgen von Stacheldraht umgeben – und von tausenden neugierigen Zuschauern.

Doch beinahe wäre alles ganz anders gekommen: De Klerk wollte Mandela eigentlich geheim nach Johannesburg fliegen und dort in die Freiheit entlassen. Doch der berühmteste Gefangene der Welt beharrte auf Kapstadt – seine Zwangsheimat für die letzten 10 000 Tage. Schließlich gab de Klerk nach: Der letzte weiße Staatschefs Südafrikas beharrte am Ende nur auf dem Datum, aber erlaubte Mandela den Gang aus den Gefängnismauern.

Es war schon lange nach 16 Uhr, als es schließlich so weit war: Hand in Hand mit seiner Frau Winnie, die unmittelbar zuvor aus Johannesburg eingeflogen war, schritt Nelson Mandela mit gereckter Faust durch das offene Tor des Victor-Verster-Gefängnisses in eine für ihn völlig neue Welt. Fast wäre die Lage bereits dort eskaliert: Während die Journalisten bei seinem Anblick nach vorne drängten, griff die Polizei nach den Gewehren. Doch dann sei etwas Außergewöhnliches geschehen, erinnert sich Carolus: „Ganz plötzlich fassten wir uns alle an den Händen – die Polizei, die Genossen, die Gefängniswärter. Und wir weinten, während Mandela auf uns zuschritt. Es war ein unglaublicher Moment.“

Auf dem Rathausplatz in Kapstadt, wo Mandela seine erste Rede an die Nation halten sollte, war die Lage ebenfalls angespannt. Viele der inzwischen fast 100 000 Menschen waren schon am frühen Morgen auf die Grand Parade unterhalb des Tafelbergs gekommen, doch gab es hier weder Wasser noch Toiletten. Je länger Mandela auf sich warten ließ, desto gereizter wurde die Stimmung. Ein erster Versuch von Mandelas Entourage, mit seinem Mercedes zum Hinterausgang des Rathauses zu gelangen, schlug fehl. Dutzende Menschen umringten sein Fahrzeug, aber niemand erkannte ihn. Wie sollten sie auch? Das letzte Foto war fast 30 Jahre alt – und hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Mann, der dort im Auto saß.

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Hand in Hand. Mandela, begleitet von seiner Frau Winnie, vor 20 Jahren. -

© AFP

Mandela musste seinen verängstigten Fahrer beruhigen und davon überzeugen, nicht aus dem Auto zu flüchten. „Wir hatten mit vielem gerechnet, aber nicht mit einem solch gigantischen Andrang“ sagt Carolus. „Selbst die Gangster wollten Mandela sehen und waren in voller Stärke aus den Townships angerückt. Als er nicht kam, wurden sie aggressiv und plünderten Geschäfte.“ Die Polizei schoss zurück – zwei Menschen starben, mehrere wurden verletzt.

Schließlich akzeptierten Carolus und das Mandela-Empfangskomitee die Hilfe der verhassten Polizei, um Mandela durch einen Hintereingang ins Rathaus zu schleusen. Als letztes Hindernis erwies sich nun ausgerechnet der US-Bürgerrechtler Jesse Jackson, der alles dransetzte, gemeinsam mit Mandela auf den Balkon des Rathauses zu treten. „Es war sehr schwierig, Jackson in die Schranken zu weisen, so versessen klebte er an Mandela“, erinnert sich der Kapstädter Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Am Ende konnte der Amerikaner nur körperlich an seinem Vorhaben gehindert werden.

Mit den letzten Sonnenstrahlen trat Mandela schließlich vor die inzwischen geschrumpfte Menge – und bemerkte, dass er seine Brille im Gefängnis vergessen hatte. Zum Glück hatte Ehefrau Winnie eine ähnliche Brillenschärfe und reichte ihm ihre Gläser: „Freunde, Genossen, liebe Mitbürger, ich grüße euch in Namen von Frieden Demokratie und Freiheit. Ich stehe vor Euch nicht als Prophet, sondern als einfacher Diener des Volkes“ waren seine ersten Worte an die Welt.

Sein Auftritt war würdevoll – und bereits damals zeigte er keinerlei Anzeichen von Verbitterung. Am Tag nach der Freilassung jubelte der bekannte burische Poet Breyten Breytenbach: „Sein Körper und Geist sind intakt und von Stolz und Liebe getränkt. Er wird siegen. Er wird versagen. Er wird leben – und er wird sterben. Aber Nelson Mandela hat eine Tür geöffnet.“ Gleichwohl wurde Mandela schnell mit der harten Realität des gespaltenen Landes konfrontiert. Hatten nicht wenige in ihm einen politischen Messias gesehen, der die tiefe Kluft zwischen den Rassen am Kap leicht überbrücken würde, so wurde nun deutlich, dass selbst Mandela die Probleme Südafrikas nicht mit Handauflegen heilen könnte. Oft wurde ihm frenetisch applaudiert, doch selten wirklich zugehört.

Der Rest ist längst Geschichte: Mandela führte seinen ANC nach einer vierjährigen Verhandlungsphase zu einem überwältigenden Wahlsieg und wurde erster schwarzer Präsident des früheren Rassenstaates. Nach nur vier Jahren trat er zurück und setzte auch damit ein Zeichen für Afrika, wo Staatschefs für gewöhnlich im Amt sterben. Vor allem sein unermüdliches Bemühen um die Aussöhnung der Menschen wird dem Freiheitskämpfer als sein größtes Verdienst angerechnet.

Seinen Höhepunkt erreichte der von ihm angestoßene Prozess des „Nation Building“ am 24. Juni 1995: Nachdem die Springböcke, die südafrikanische Rugby-Nationalmannschaft, mit 15:12 gegen die Erzrivalen aus Neuseeland den World Cup gewannen, überkam das Land, schwarz wie weiß, ein noch nie dagewesenes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jahrelang war das Team zuvor unter den Schwarzen als Symbol der Unterdrückung tief verhasst gewesen. „Hat die Unterstützung von 60 000 Südafrikanern heute den Sieg möglich gemacht?“ fragte damals ein Reporter den weißen Mannschaftskapitän. „Wir haben heute nicht 60 000 Anhänger gehabt“, erwiderte Francois Pienaar, „sondern 43 Millionen. Und einen Präsidenten, der das alles erst möglich machte“. Nicht nur die Zuschauer im Johannesburger Ellis-Park hätten hinter dem Team gestanden, berichtigte der Kapitän den Reportern, sondern jeder einzelne Südafrikaner vom Präsidenten abwärts.

Mit dem Rückzug Mandelas ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit zunehmend verblasst. Sein Nachfolger Thabo Mbeki gab Mandelas Versöhnungspolitik frühzeitig auf und hat die Nation mit seiner Politik der Afrikanisierung neu gespalten. Und auch der neue Präsident Jacob Zuma glänzt eher durch immer neue sexuelle Eskapaden denn durch Führungsstärke. Nicht wenige drängen Mandela ob der Grabenkämpfe im ANC und dessen moralischen Zerfalls sein Schweigen zu brechen. Doch der Vater der Nation bleibt stumm. „Sie sollen ihn lassen“, meint der angesehene Kommentator Barney Mthomboti. Mandela habe sein Werk verrichtet. „Es ist an der Zeit, dass Südafrika und seine Menschen sich an den 11. Februar vor 20 Jahren zurückerinnern und neue Kraft daraus schöpfen. Denn einen wie Mandela wird es nie wieder geben.“

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