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Szene aus "Das Weiße Band" von Michael Haneke.

© dpa

Neue Generationenverträglichkeit: Traut auch denen über 30

Eltern und Kinder sitzen heute fröhlich an einem Tisch – auch das ist ein Erbe von 1968. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Wolfgang Prosinger

Dass das Private immer auch politisch ist – das war einer jener Glaubenssätze, die in studentenbewegten Zeiten ausdauernd zu hören waren und sich über alle Wohngemeinschafts- und Beziehungsdiskussionen breit machten. Mittlerweile ist dieser Satz ein bisschen in Vergessenheit geraten, und die Zweifel an seiner Richtigkeit sind der Gewissheit gewichen, dass er in die Mottenkiste sozialromantischen Unfugs gehöre. Privat ist privat, politisch ist politisch, Schnaps ist Schnaps.

Trau keinem über 30!

Dabei gäbe es neuerdings manchen Anlass, ihn aus jener Kiste wieder herauszuholen und ihn mit neuen Augen zu betrachten. Denn seit einiger Zeit ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten, ein sehr privates Phänomen: Immer wieder bei Treffen mit Freunden, zum Abendessen, zum Wein, sitzen auch deren Kinder mit am Tisch, 16-Jährige, 20-Jährige, 25-Jährige. Sie sitzen zusammen mit den Älteren, erheblich Älteren, und scheinen sich wohl dabei zu fühlen. Diskutieren mit, lachen mit, reden mit.

Und die Älteren, erheblich Älteren, wundern sich. Unvorstellbar, dass sie selbst in jüngeren Jahren freiwillig am Tisch ihrer Eltern und deren Freunden Platz genommen und an den Gesprächen teilgenommen hätten – und das gar noch mit Vergnügen. Das Weite hätten sie gesucht, schleunigst, trau keinem über 30! Gott bewahre uns vor den Weisheiten des Alters und der Alten. Nichts wie weg hier.

Daran scheint sich inzwischen grundsätzlich etwas geändert zu haben. Hat sich der Konflikt der Generationen (abgesehen von pubertären Turbulenzen) in Wohlgefallen aufgelöst oder zumindest auf ein menschliches Maß reduziert? Es könnte sein. Und dafür gibt es zwei Gründe. Zwei politische übrigens.

Zum einen ist diese neue Generationenverträglichkeit ein Zeichen dafür, dass das Grundmisstrauen der Jungen gegenüber den Älteren überwunden ist. Ehedem bestand schließlich stets der – nach statistischer Wahrscheinlichkeit – nicht unbegründete Verdacht, am Tisch der Eltern könnte ein Nazi sitzen. Einer, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Die Elterngeneration war kontaminiert. Die Frage, was wer in den Hitler-Jahren getan hatte, stand stets im Raum, selbst wenn sie nicht gestellt wurde. Erst im Lauf der Jahrzehnte hat sich das auf sehr natürliche Weise geändert.

„Ein folgsam Kind, gefragt nur spricht’s“

Zum anderen aber trägt nun Früchte, was in jenen uralten Zeiten, die mit der Zahl 1968 verschlagwortet wurden, begonnen hat. Die Rebellion von damals war auch eine Rebellion gegen die verkrusteten Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern. Bis weit in die 1960er Jahre hinein herrschten da autoritäre Strukturen, die wegen des nationalsozialistischen Entwicklungs- und Kulturbruchs an wilhelminische Zeiten gemahnten. Prügelstrafen, zu Hause oder in der Schule, waren selbstverständlich, oben und unten war säuberlich definiert, ein partnerschaftliches Miteinander in der Regel undenkbar. Diese versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen war eines der erklärten Ziele der damals Rebellierenden.

Bis heute hält sich bei deren konservativen Kritikern der Vorwurf, „die 68er“ hätten im Sinn gehabt, die Familie als Keimzelle des Staates demontieren zu wollen. Richtig daran ist, dass es damals auch darum ging, andere Lebensformen möglich und salonfähig zu machen. Aber in der Hauptsache galt es, das Wohl der Kinder neu zu definieren, sie endlich nicht mehr als Objekte der Dressur zu begreifen, sondern sie ernst zu nehmen in ihrer Identität als Heranwachsende, in ihren Bedürfnissen, in ihren Nöten, auch in ihrer Sexualität. Dass gerade Letzteres in Einzelfällen zu fatalen Grenzüberschreitungen bis hin zum Missbrauch führte, darf nicht verschwiegen werden, hat aber mit dem Kern der Bestrebungen nichts zu tun. Es ging um Individualisierung statt Gleichmacherei, um die Entdeckung von Persönlichkeitsrechten, die auch unterhalb der Schwelle zur Volljährigkeit existieren.

„Ein folgsam Kind, gefragt nur spricht’s“, dichtete Richard Wagner in seinen „Meistersingern“. Das war im Jahr 1868. Es dauerte geschlagene 100 Jahre, bis begonnen wurde, diese Erziehungsmaxime in Frage zu stellen. Und es sollte noch eine geraume Zeit dauern, bis der Wandel in den Eltern- Kind-Beziehungen greifbar, sichtbar wurde. Nicht immer und nicht überall. Aber wenn Eltern und deren Freunde mit Kindern und deren Freunden zusammen sitzen, zusammen reden, zusammen essen, zusammen streiten – dann könnte man auf die Idee kommen, sie gehörten zusammen.

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