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Plamen Orescharski

© dpa

Neue Regierung in Bulgarien: Mit Türken und Sozialisten

Das Siebeneinhalb-Millionen-Einwohner-Land Bulgarien hat eine neue Regierung – Demonstranten denken dabei an Frankenstein.

Sofia - In einer stürmischen, von wüsten Beschimpfungen und Geschäftsordnungstricks geprägten Sitzung hat die 42. Bulgarische Volksversammlung am Mittwoch das sozialliberale Kabinett von Plamen Orescharski ins Regierungsamt gewählt. 120 Stimmen von Abgeordneten der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) und der türkischen Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) reichten aus, da sich 119 Abgeordnete der rechtsgerichteten Bürger für eine europäische Regierung Bulgariens (GERB) und der nationalistischen Partei Ataka nicht registrieren ließen und somit das Wahlquorum gesenkt war.

Als einziger Ataka- Abgeordneter ließ sich deren Führer Volen Siderov registrieren und stellte damit das zur Durchführung der Wahlversammlung nötige Quorum von 121 Abgeordneten her. Siderov wurde damit faktisch zum Königsmacher der Regierung aus Sozialisten und Türken, obwohl er zuvor stets beteuert hatte, weder eine Regierung von Boiko Borissov (GERB) noch von Plamen Orescharski unterstützen zu wollen. Mag der wortgewandte Siderov nun mit Sophistereien erklären, in Opposition zur Regierung zu stehen, viele Nationalisten werden ihn dennoch des Verrats bezichtigen. Unbehagen darüber, dass sich eine sozialliberale Regierung von einer fremden- und minderheitenfeindlichen Partei zur Macht verhelfen lässt, bekundeten Demonstranten während der Wahl vor dem Parlamentsgebäude, sie protestierten gegen die „Frankenstein-Regierung“.

Der 53-jährige parteilose Volkswirtschaftler Plamen Orescharski ist für Bulgarien so etwas wie eine „personifizierte große Koalition“. Von 1997 bis 2001 war er Vize-Finanzminister im konservativen Kabinett Ivan Kostovs, was ihn nicht daran hinderte, von 2005 bis 2009 der sozialistisch geführten Koalition von Ministerpräsident Sergej Stanischev als Finanzminister zu dienen. Mit den in Bulgariens politischer Szene häufig anzutreffenden „Nomaden“, die je nach Lage die Parteien wechseln, hat er aber wenig gemein. Auch von seinem konfliktfreudigen und programmatisch wechselhaften Vorgänger Boiko Borissov unterscheidet sich der pragmatische, im Ton stets verbindliche Experte Orescharski deutlich.

Die politische Zukunft seiner Minderheitenregierung in dem Land mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern scheint ungewiss. Einerseits ist schwer vorstellbar, wie sie die für überfällige Reformen im Gesundheitswesen, bei der Bildung, im Rechtssystem und in der Energiewirtschaft notwendigen Gesetze gegen die massive Opposition aus GERB und Ataka durchsetzen will. Andererseits ist Orescharskis Regierung praktisch unstürzbar. Gemäß bulgarischer Verfassung kann eine Regierung zwar gewählt werden, wenn mehr als die Hälfte des Sitzungsquorums von 121 Abgeordneten für sie stimmt, zu ihrem Sturz ist aber die einfache Mehrheit aller Abgeordneten nötig. Sollten die BSP- und DPS-Abgeordneten bei bevorstehenden Misstrauensanträgen jeweils vollständig erscheinen und auf Linie abstimmen, werden die 120 Abgeordneten von GERB und Ataka die zum Sturz der Regierung Orescharski nötigen Stimmen nie erreichen können.Frank Stier

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