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Politik: Neue Straßenschlachten in der Türkei

Wieder landesweite Proteste gegen Erdogan.

Athen - Auch sechs Wochen nach Beginn der landesweiten Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung kommt die Türkei nicht zur Ruhe. Am Samstagabend setzte die Polizei im Istanbuler Taksim-Viertel, wo die Proteste Ende Mai begonnen hatten, wieder Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse gegen friedliche Demonstranten ein. Zahlreiche Touristen, die sich in dem wegen seiner Hotels, Restaurants und Läden beliebten Viertel aufhielten, gerieten zwischen die Fronten und flüchteten. Auch aus dem südosttürkischen Hatay und aus der Hauptstadt Ankara wurden Zusammenstöße gemeldet. Dort soll es mehr als 100 Verletzte gegeben haben.

Immer häufiger werden die Demonstranten, die gegen den autoritären Führungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Islamisierungstendenzen protestieren, nicht nur von der Polizei attackiert. Fernsehbilder zeigten, wie auf der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal Caddesi Männer mit Schlagstöcken auf Demonstranten, aber auch auf Journalisten losgingen. Bereits vergangene Woche waren Demonstranten und Passanten in Istanbul und Ankara von Männern mit Macheten angegriffen worden. Die Polizei sah bei diesen Attacken untätig zu. In Istanbul wurde ein Angreifer zwar später kurzzeitig festgenommen, dann aber wieder freigelassen. Inzwischen hat ein Gericht Haftbefehl gegen einen der Angreifer erlassen. Der Mann soll sich aber nach Marokko abgesetzt haben, berichten Medien. Über die Identität der Angreifer und ihre Motive gibt es bisher nur Spekulationen: Handelt es sich um Erdogan-Anhänger, um Islamisten oder gar um Polizisten in Zivil?

Die Bilder beginnen an das bürgerkriegsähnliche Chaos Ende der 70er Jahre zu erinnern. Damals lieferten sich rechts- und linksextreme Gruppen blutige Kämpfe in den türkischen Städten. Fast keine Nacht verging ohne Terroranschläge und Todesopfer. Die Unruhen führten schließlich zum Militärputsch vom 12. September 1980. Auch in den 1980er und 90er Jahren trieben paramilitärische Gruppen und Geheimbünde ihr Unwesen, entführten kurdische Aktivisten und linke Bürgerrechtler, ließen fast 900 Menschen spurlos verschwinden und verübten mehrere tausend politisch motivierte Morde. Die meisten dieser Gruppen hatten Verbindungen zu staatlichen Sicherheitsorganen und Geheimdiensten – man sprach vom „tiefen Staat“.

Solche Verbindungen scheint es auch jetzt zu geben. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls eine Expertengruppe, die den Tod des 19-jährigen Studenten Ali Ismail Korkmaz untersuchten. Korkmaz war am 2. Juni bei einer Demonstration in der zentralanatolischen Universitätsstadt Eskisehir von mehreren Männern mit Baseball-Schlägern angegriffen und zusammengeprügelt worden. Er starb am 10. Juni an seinen schweren Kopfverletzungen. Die Prügelattacke wurde zum Teil von Sicherheitskameras aufgenommen. Nach Feststellung der Expertenkommission fehlen aber in den Kameraaufzeichnungen entscheidende Szenen. Bei den Angreifern mit den Baseball-Schlägern handele es sich vermutlich „um Polizisten in Zivil oder Zivilisten, die im Einvernehmen mit der Polizei handelten“, stellt der Bericht fest. Die Polizei bestreitet Vorwürfe, die Aufnahmen der Überwachungskameras manipuliert zu haben. Gerd Höhler

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