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Der mächtigste Mann der Welt? Präsident Xi Jinping führt China.

© AFP

Neue Weltordnung: Warum wir keine Angst vor China haben müssen

Mit der Supermacht könnte der Westen die Welt gemeinsam gestalten. Dafür müssten wir nur China erst einmal verstehen wollen. Ein Essay.

Europa hat gerade mit sich selbst zu tun, Donald Trump irritiert die USA und gleich die ganze Welt dazu – und China? „Wenn es Xi Jinping gelingt, Trumps erratisches Verhalten klug zu nutzen, gehört China die Welt“, meint die „South China Morning Post“. Nicht der „Clash der Zivilisationen“ steht bevor, wie man noch vor zehn Jahren glaubte, sondern der Übergang in eine neue Weltordnung. Im Osten entsteht eine säkulare Weltmacht, mit der wir uns zu arrangieren haben.

Konsequent setzt China im Inneren auf Ordnung und Wachstum. Die Wirtschaft erreicht wohl bald den Stand der Selbstgenügsamkeit, es wird nicht mehr oder unbeholfener geistiges und sonstiges Eigentum gestohlen und nachgebaut als anderswo. Die Gesellschaft kommt im 21. Jahrhundert an, fleißig und konsumfreudig. Der Staat lernt Effizienz, Disziplin und rationales Management. Die Politik der Sauberkeit und Ordnung greift allenthalben durch: 1,3 Millionen Einzelfälle erfolgreicher Korruptionsbekämpfung sind aktenkundig, ganz im Sinne der Bereinigung von Xi Jinpings Partei; soeben hat der Staatsführer erklärt, dies sei erst der Anfang: Nachdem die „Tiger“ gezähmt seien, also die führenden Kader, will er jetzt den kleinen Fischen beziehungsweise „Fliegen“ zu Leibe rücken.

Die Unterhaltung liefert die neuen Symbole

In China weiß die Jugend, was sie zu tun hat und sammelt Loyalitätspunkte: Gesetzlicher Zwang und Anreize materieller oder ideeller Art sind Zuckerbrot und Peitsche des White-Collar-Proletariats. Sie binden die treibenden Eliten gesellschaftlich zusammen, die andernfalls zwischen Mobilität, Karriere, Kinder- und Elternpflege und bravem Engagement zerrieben würden. Dafür gibt es Einträge ins Bonus-Heft des „guten Bürgers“ und es bindet zivilisatorische Energien an zuträgliche Zwecke.

Chinas Propagandaschmiede hat sich mit Hollywood zusammengetan, um ein geistiges Klima virtueller Realität aus Träumen, großen Erlebnissen und einfachen Wahrheiten zu schaffen. Unterhaltung liefert die neuen Symbole, die religiösen, gemeinschaftlichen Horizonte, durch die der Mensch Entspannung findet und sich regeneriert.

Zum Beispiel in der Fernsehserie „Tantchen Kranich“. Hier ist die von Sun Li verkörperte Rolle der Duo He wie immer bei Heldenrollen in China auch moralisch, Inbegriff von Opferbereitschaft, Gutherzigkeit und dem beharrlichen Willen, auch auf eigene Kosten alles zu geben – für die Familie (hier darf gerne die Partei mitgedacht werden). Also: Selbstloser Einsatz für andere, denen man alles verdankt, was man hat und ist, wird besonders aus einer Position hoffnungsloser Schwäche (als japanisches Mädchen bei einer soliden chinesischen Nachkriegsfamilie aufgewachsen) zu einzigartiger moralisch exemplarischer Kraft.

Verspielte Zerstreuung im Konsum

Das Einüben kultureller und bürgerlicher Kompetenzen degeneriert in China zu einer verspielten Zerstreuung im Konsum. Dies sind nur Facetten einer umfassend und langfristig angelegten chinesischen Politik, vielleicht kein Masterplan, aber bislang von unerhörter, subtiler Tiefenwirkung.

China bestellt seinen Lebensraum. Seine wirtschaftlichen, geistigen und personellen Ressourcen besorgt es sich systematisch und rigoros auf den Weltmärkten. Chinas Kernkompetenz ist hierbei ein sich selbst genetisch-programmatisch entfaltender Technologie-Prozessor; für Zweifel an der ideologischen Zulässigkeit dieser Erfolge hat man die Geduld verloren. Diese Selbststärkung gelingt der Volksrepublik mit atemberaubender Wucht und Dynamik.

Begriffe wie "totalitär" und "Diktatur" bringen uns nicht weiter

Unter Maos Blick. Hostessen stehen während des 19. Parteikongresses am Tiananmen-Tor in Peking.
Unter Maos Blick. Hostessen stehen während des 19. Parteikongresses am Tiananmen-Tor in Peking.

© dpa

Dabei lernt China konsequent aus dem Trauma des gescheiterten ersten Versuches, sich einen Platz in der globalisierten Moderne zu schaffen. Vor 150 Jahren hatte man sich noch hinter dem Eigensinn der chinesischen Kultur gegenüber der Technologie des Westens verschanzt, nach dem Motto: Nutzen wir das technische Wissen des barbarischen Westens und verleiben es unserem Kulturkörper ein! Mit diesem irrationalen Anspruch auf Identität und Souveränität ließ China den Kolonialmächten freie Bahn, die Welt auch im Osten nach ihrem Bilde zu formen.

Nunmehr gehört die „South China Morning Post“ zum Internet-Handelskonzern Alibaba, der längst mächtiger ist als die Imperien der Gates’ oder Zuckerbergs; Volvo wurde chinesisch gesund und stark gemacht; ein Großteil der modernen Industrie- und Verkehrsinfrastrukturen Afrikas sind von China gebaut, um die eigenen Interessen nachhaltig zu vernetzen – und die USA würden kollabieren, zöge China sein Geld von dort ab.

Wie im Falle der IT-gestützten Wirtschaft die Konzerne Alibaba oder Tencent übernehmen auch im sozialen Sektor und in geschwisterlicher Eintracht mit der Partei chinesische Unternehmer Aufgaben des Staates: Stolz ist man auf das Anwachsen der eingetragenen Wohlfahrts-Stiftungen, zwischen 2006 und 2016 um 430 Prozent, auf (immer noch bescheidene) 5545; besonders interessant erscheint die gleichzeitige Zunahme des Engagements der Auslands-Chinesen in den USA: Dort wurden 2014 insgesamt 1300 karitative Stiftungen von US-Chinesen gezählt, bei einem Wachstum der Zuwendungen um das Fünffache.

Philantropie und Kultur-Nationalismus

Die Strategie der Ära von Deng Xiaoping, den langen Marsch durch die Wertschöpfungskompetenzen der Welt zu gehen, zahlt sich langsam, aber überdeutlich aus. So versteht sich dann auch die doppelte Zielsetzung, „Philanthropie“ mit einem chinesischen Kultur-Nationalismus zu verknüpfen, wie dies jüngst Spender auf einer spektakulären Zeremonie an der Harvard School for Public Health proklamierten: „Wir geben China etwas zurück und beweisen, dass China nicht nur nehmen kann, sondern etwas gibt“, wie die „South China Morning Post“ Spender zitierte.

Andererseits wandelt sich die Grundhaltung zum Westen: Früher Inbegriff von Stärke und Hoffnung fragen sich Eltern immer mehr, wie sicher es noch ist, ihre Kinder zum Studieren dorthin zu schicken, „aus Angst vor amerikanischen Schusswaffen und europäischem Terror“.

Chinas viel beschworener „Dritter Weg“ könnte einer sein, den unsere Kulturen gemeinsam gehen, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. Dabei ist es unsere Hoffnung, dass wir die Aufgabe, aus den Erfahrungen mit Kolonialismus und Nationalsozialismus zu lernen, gemeinsam auf eine neue Stufe bringen, die Verantwortung durchbuchstabiert. China und unser Austausch könnten enorm profitieren, wenn Deutschland seinen Lernprozess aus der Vergangenheit China sensibel vermitteln würde. Und sich auch überlegt, wie es China auf nationale Traumata wie den Großen Sprung nach vorn oder die Kulturrevolution ansprechen könnte.

Im Zentrum steht die Einbettung der zweckrationalen Politik von Kontrolle und Ordnung in einen geistigen Zusammenhang, der Räume schafft: für Menschlichkeit und Entwicklung aus Freiheit. Wir können beginnen, sowohl miteinander aus der Geschichte zu lernen als auch durch die besonderen Erfahrungen und Kompetenzen unserer Kulturen an einer Welt zu arbeiten, die gesünder, nachhaltiger, gerechter werden kann. Denn diese Prinzipien und Tugenden durchwirken die Klassiker beider Traditionen.

Kein Wohlfühl-Buddhismus

Sie begrenzen zugleich mit der Freiheit des Staates die der einzelnen Menschen, indem sie alle den dazu tauglichen gesellschaftlichen Institutionen unterwerfen. Wir können die Entwicklungen im heutigen China nicht ansatzweise verstehen, wenn wir politische Begriffe wie „totalitär“ oder „zentralistische Diktatur“ in den Mittelpunkt stellen. Die entsprechenden chinesischen Äquivalente sind historisch, moralisch und politisch ganz anders verknüpft und im Diskurs präsent, als dass sie in Begriffen unserer Erfahrungswelt aufgehen könnten. China ist eben weder Athen noch Rom noch ein „Drittes Reich“. Der Alltag – gerade derjenige der fortschrittlichen Kräfte – ist nicht von Angst geprägt, sondern von Konsum und Lebensgestaltung. Wir müssen mit der Tatsache zurechtkommen, dass die große Mehrheit der Menschen in China das System mitträgt und dass unsere Modelle offenbar nicht als Alternativen überzeugen.

Die richtige Einordnung der traditionellen Geisteskultur in China ist für unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit grundlegend. So mag ein Schlüssel, um Xi Jinping zu verstehen, darin liegen, die starke inhaltliche Nähe zum Buddhismus näher zu betrachten, einem Verständnis von gelassener Führung, das sich grundlegend von dem humanistischen Wohlfühl-Buddhismus unterscheidet, den wir mit dem Osten zu verbinden gewohnt sind.

Man kann daran erinnern, dass es der Gründungskaiser des chinesischen Einheitsstaates (221 vor unserer Zeitrechnung), Qin Shi Huangdi war, der ausgerechnet den Daoismus von Verbrennung und Verfolgung der Kulturträger ausnahm. Denn dieser bot ihm eine geistige Perspektive, die im scheinbaren Gegensatz zu den Lehren des Nichteingreifens und So-sein-Lassens eine radikal rationale und drastische Regierungsform begründete, gerade aus der inneren Distanzierung der Politik von der Moral.

Unser Chinabild ist anekdotisch und emotional

Der mächtigste Mann der Welt? Präsident Xi Jinping führt China.
Der mächtigste Mann der Welt? Präsident Xi Jinping führt China.

© AFP

Hierfür wäre es aber zunächst einmal nötig, unseren Zugang zur Kultur und Geschichte des politischen Denkens in China, über den Menschen und die Vernunft auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage zu entwickeln. Dazu steht uns, wenn wir an das Wissen über die USA, das klassische europäische Altertum oder die Philosophie Europas denken, üblicherweise eine breit und differenziert bearbeitete Original- und Forschungsliteratur zur Verfügung, die an Lehrstühlen unterrichtet werden kann. Mit Bezug auf China kann von alldem leider keine Rede sein.

Unser Chinabild skizzieren wir weiterhin mit den begrifflichen Instrumenten und Wahrnehmungen des europäischen 20. Jahrhunderts. So wundert es nicht, wenn wir in China nur totalitaristische Autorität sehen, aber nicht verstehen, wie ein solches System derart erfolgreich und integrativ funktionieren kann. Etwas Bescheidenheit und Selbstkritik stünde uns gut an – gerade angesichts der erheblichen Legitimitätsprobleme Europas.

Doch für die Analyse und den Vergleich mit China fehlt in Deutschland gerade in der Philosophie eine institutionelle Struktur. Wir sind nicht bereit, die Kompetenzen für einen souveränen Umgang mit China aus eigener Kraft vorzuhalten. In Bibliotheken findet man kaum eine Andeutung von der mehrere tausend Jahre alten chinesischen Tradition. Und das wenige, das wir in Händen halten, ist oft nicht mehr als ein vielfach verwässerter und verfremdeter Aufguss.

Verständliches Modell statt postkoloniales Machtmittel

Anstatt hier in die Grundlagen zu investieren und einen geeigneten wissenschaftlichen Rahmen zu entwickeln, drehen wir uns weiter in den Kreiseln des europäischen Provinzialismus. Unser Chinabild ist anekdotisch und emotional. Dabei liegt gerade in der konstruktiven Auseinandersetzung mit China eine Chance, die Grundlagen von Demokratie, Menschenrechten, Freiheit und Würde auf glaubwürdige Weise global zu denken: in Richtung Verfassungspatriotismus, substanzielle Demokratie, global nachhaltige, gerechte und solidarische Ökonomie.

Es gibt weniger Grund, vor China Angst zu haben, als davor, Chinas Heranwachsen nur kopfschüttelnd zuzusehen und – in der Wahrnehmung unserer eigenen Verantwortung zu versagen. Wenn wir Demokratie und Menschenrechte so ernst nehmen und gut verstehen wie wir glauben, wäre es an uns, ein im Blick der chinesischen Erfahrungswelt verständliches Modell zu präsentieren und nicht wie bisher ein postkoloniales Machtmittel.

Wir brauchen diskursive Ehrlichkeit

Dafür müssten wir deutlich machen, warum wir eine Demokratie durch formal-prozedurale Institutionen genau der bei uns etablierten Art für so gut halten, dass sie auch China stärker und gerechter machen. Dasselbe gilt für Menschenrechte. Hier brauchen wir eine Grundlage diskursiver Ehrlichkeit. Das Ziel, aus beiden kulturellen Grundhaltungen kann sein: eine unideologische, realistische Diskussion über das Wünschbare und Machbare im Interesse der geteilten Grundannahmen über das Menschenrecht.

Mit Deng Xiaoping können wir uns des alten Wissens bedienen, dass man beim Durchwaten eines steinigen Stromes jeden Schritt achtsam, rücksichtsvoll und zielbewusst wählt und dabei besser nicht allein vorgeht.

Mit einer polyzentrischen Welt hat China konzeptuell kein Problem, solange es dabei im Mittelpunkt der Macht steht. Die Ironie dieser Aussage bleibt dem „Reich der Mitte“ allerdings verborgen. Es gibt noch immer vieles, das China von uns lernen kann – zu unser aller Nutzen.

Der Autor, habilitierter Philosoph und Sinologe, lehrt und forscht an der Freien Universität Berlin und der Polytechnischen Universität Hongkong.

Ole Döring

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