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Die Proteste an der Wall Street sind medienwirksam inszeniert, viele haben große Plakate dabei oder sind maskiert. Nun bekommen sie zum ersten Mal größere mediale Aufmerksamkeit.

© Reuters

New York: Proteste an Wall Street: Von Börsen und Bösen

Sie wollen nichts weniger, als das System Wall Street anzugreifen. Die Demonstranten in New York haben nun die Gewerkschaften auf ihrer Seite - aber viele sehen sie dennoch nur als ein paar harmlose Jugendliche.

Seit zwei Wochen protestieren sie nun im Herzen von Manhattan gegen die Gier der Banken, gegen die schlimmen Folgen der Wirtschaftskrise für die ganz normalen Amerikaner. Aus Sicht der Demonstranten ist das Leiden der Durchschnittsfamilien durch die Finanzkrise ausgelöst worden. Die Schuld daran trage die speziell amerikanische Variante des Finanzkapitalismus mit den ausufernden Spekulationen um Immobilien, Hedgefonds und Derivate.

„Occupy Wall Street!“ – unter diesem Slogan versuchen die zumeist jugendlichen Protestierer den Betrieb im Börsenviertel von New York zu behindern und damit zugleich die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen. Sie halten selbst gemalte Pappschilder hoch mit Aufschriften wie „Bankprofite bringen nichts“ oder „Dieser Finanzdistrikt trägt die Schuld an Armut und Leiden in der Welt“. Sie bilden Grüppchen auf den Bürgersteigen rund um die Börse und die Bankentürme, erzeugen damit Gedränge und erschweren es den Bankangestellten so, in ihre Büros zu gelangen. Sie wollen zu einer Massenbewegung werden. Ob das gelingt, ist ungewiss. Bisher zählen sie eher nach Hunderten als nach Tausenden.

Am Mittwoch konnten sie einen Erfolg verbuchen. Mehrere Gewerkschaftsführer haben sich mit den Demonstranten solidarisiert. „Diese jungen Leute sprechen für die Mehrheit der Amerikaner, die frustriert darüber sind, dass die Banker sich zu ihren Lasten bereichern“, sagt Larry Henley, der Chef der Gewerkschaft für das Transportwesen, die 20 000 Mitglieder im Raum New York hat. Und Michael Mulgrew, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, die in New York 200 000 Mitglieder zählt, bekundet „Stolz, dass ich die Bewegung unterstützen kann“. Nutzen von der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre habe nur ein Prozent der Gesellschaft, „für 99 Prozent funktioniert es nicht“. Darüber müsse endlich öffentlich und landesweit diskutiert werden.

Doch die Resonanz in den amerikanischen Medien und der breiteren Gesellschaft ist bisher zurückhaltend. Zeitungen und Fernsehsender in den USA berichten nicht in prominenter Weise über die Proteste und lassen auch keine besondere Sympathie für die Anliegen erkennen. Bauarbeiter, die an den umliegenden neuen Gebäuden arbeiten, darunter dem Büroturm, der das am 11. September 2001 zerstörte World Trade Center ersetzen soll, blicken skeptisch auf die Demonstranten. „Die müssen auch noch lernen, dass sich die Verhältnisse nicht radikal ändern, nur weil ein paar sympathische junge Leute protestieren“, sagt Jack, den der Sender CNN in der Frühstückspause befragt.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie eine Moderatorin einen Demonstranten im Fernsehen vorführte.

Erin Burnett, die neue Moderatorin der 19-Uhr-Nachrichten des Senders, hat am Dienstag einen der Demonstranten interviewt – aber nur, um seine Unkenntnis vorzuführen. Er durfte einige Sätze dazu sagen, wie ungerecht das doch sei, dass die Banken mit vielen Milliarden Dollar aus der Steuerkasse gerettet wurden, aber niemand einem ganz normalen Bürger helfe, wenn der seinen Job in der Krise verliert oder sein Haus zwangsversteigert wird, weil er die Hypothekenraten nicht bezahlen kann. Dann hielt Burnett ihm entgegen: „Wissen Sie nicht, dass der Staat bei der Bankenrettung gar nicht draufgezahlt, sondern ordentlich Gewinn gemacht hat?“ Der Demonstrant schaute verdutzt und verunsichert.

Burnett hat recht. Das amerikanische Bankenrettungsprogramm war so angelegt, dass die Finanzinstitute die geliehenen Milliarden zur Stabilisierung ihrer Bilanzen mit marktüblichen Zinsen zurückzahlen mussten – und das haben sie auch getan, um die damit verbundenen Auflagen wie zum Beispiel die Begrenzung der Managergehälter wieder loszuwerden.

Rechte Sender wie Fox und Zeitungen wie das „Wall Street Journal“ ignorieren die Proteste entweder oder bedenken sie mit wenig schmeichelhaften Worten. Auch Polizisten, die rund um die Wall Street patrouillieren, werden vor laufenden Kameras befragt. „Jeder hat das Recht, frei und öffentlich seine Meinung zu vertreten“, sagt ein Uniformierter. „Dieses Recht schützen wir. Nur wenn sie mit ihren Protesten den Verkehr behindern, dann müssen wir einschreiten.“ Das geschah am vergangenen Sonnabend. Am Wochenende hat die Wall Street frei. Vielleicht war auch die Frustration gewachsen, dass die Proteste wenig Resonanz fanden, während eine Kältewelle über New York hinwegzog und das Campen unter Plastikplanen in den angrenzenden Parks den Demonstranten erheblichen Durchhaltewillen abverlangte. Jemand gab die Parole aus, man solle zur Brooklyn Bridge ziehen, einer Hauptverkehrsader über den East River. Doch als die Protestierer die Fahrbahn betraten und den Aufrufen der Polizei nicht folgten, auf der für die Fußgänger reservierten Spur zu bleiben, wurden rund 500 von ihnen festgenommen.

Das brachte die Bewegung „Occupy Wall Street!“ erstmals breiter in die Nachrichten, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Der Verlauf bot manchen US-Medien aber zugleich den Vorwand, die Demonstranten als Ruhestörer darzustellen. Seither bemühen sich die meisten von ihnen, auf dem Bürgersteig zu bleiben, wenn sie ihre Pappschilder durch die Straßen rund um die Wall Street tragen – sowie in den Camps den Abfall ordentlich zu entsorgen. Sie wollen der Polizei und ihren politischen Gegnern keinen Vorwand liefern.

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