zum Hauptinhalt
Foto: Rückeis

© Thilo Rueckeis HF

Politik: Nicht nur am Rande

Antisemitismus ist über die rechtsextreme Szene hinaus noch immer weit verbreitet. Experten vermissen eine Strategie dagegen.

Von Matthias Meisner

Berlin - Der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl warb um Differenzierung. Selbstverständlich lobte auch er, dass ein Expertenkreis im Auftrag des Bundestages nach zweijähriger Arbeit eine Analyse zum Antisemitismus in Deutschland vorgelegt hat. Doch sollte dies nicht zu dem Schluss führen, dass „jede Schmiererei“ immer gleich „inhaltsstarker Antisemitismus“ sei. Zuweilen handele es sich auch nur schlicht um Provokationen pubertierender Jugendlicher.

2008 hatte der Bundestag nach längerem Gezerre das Gremium eingesetzt, im Herbst versandte es seinen Bericht zunächst an die Bundesregierung und dann an das Parlament, am Montag wurde das 202-Seiten-Papier offiziell vorgestellt. Die Fakten sind alarmierend: Jeder fünfte Deutsche ist latent antisemitisch, fanden die Wissenschaftler und Experten unter Leitung von Peter Longerich von der Universität London und Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin heraus. Nicht jeder von ihnen drückt das in Worten und Taten aus, sagte Longerich, aber „in Einstellungen“, basierend auf weit verbreiteten Vorurteilen oder schlichtem Unwissen. Wird scharfe Kritik an Israel berücksichtigt, liegt der Prozentsatz von latentem Antisemiten im Land laut Wetzel sogar bei 40 bis 50 Prozent.

Deutschland liegt damit im europäischen Mittelfeld – das aber auch nur, weil speziell in Polen, Ungarn und Portugal extrem hohe Antisemitismuswerte ermittelt wurden. Zufrieden kann das nicht stellen, zumal der deutsche Wert seit Jahren konstant ist, dies trotz einer beständigen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und trotz einer weitgehenden öffentlichen Tabuisierung des Antisemitismus. Das Internet wiederum vergrößert das Problem. Es sei, so heißt es im Fazit der Studie, „heute der wichtigste Kommunikationsort für den Austausch zwischen radikal-antisemitischen politischen Gruppierungen. Mainstreamangebote wie Youtube, Facebook oder Twitter würden „in großer Selbstverständlichkeit“ von Rechtsextremen, Holocaust-Leugnern und extremistischen Islamisten zur Verbreitung ihrer Propaganda benutzt. Dort sei eine Verbreitung antisemitischen Gedankenguts „kaum zu verhindern“.

Vertreter aller Fraktionen werteten die Analyse als „Alarmsignal“ und „Auftrag“. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) vermisste eine politische und gesellschaftliche Strategie gegen Antisemitismus. Ihre Kollegin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen beklagte, viele Projekte würden zu rasch auslaufen und seien deshalb nicht nachhaltig. Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse lobte den erstmals vorgelegten Bericht als „wichtige Bestandsaufnahme“. Wissen sei elementar, um den Anfängen zu wehren.

Wichtigster politischer Träger des manifesten Antisemitismus in Deutschland ist das rechtsextremistische Lager – mehr als 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten werden von Tätern aus diesem Spektrum verübt. Der Hass gegen Juden schweißt demnach laut Studie die rechtsextreme Szene zusammen, selbst wenn das nach außen gelegentlich überlagert ist – durch Ausländer, Fremde und Muslime als Feindbilder oder Themen wie Globalisierung, Sozialpolitik oder Überfremdung. Umgekehrt stärke der weit in die gesellschaftliche Mitte reichende und nicht hinreichend geächtete Antisemitismus die Neonazis. Erhebliches Gefahrenpotenzial beim Schüren von Vorurteilen sehen die Experten daneben auch beim Islamismus, auch wenn es an genauen Untersuchungen dazu noch fehlt.

Anspruch auf Vollständigkeit hat der erste Bericht dieser Art nicht. Zwar werden bestimmte Aspekte ausführlich analysiert, etwa eine Antisemitismusdebatte innerhalb des globalisierungskritischen Netzwerks Attac oder auch der Einfluss von türkischen Medien in Deutschland bei der Verbreitung von Ressentiments. Longerich gab aber zu, dass über den Antisemitismus in der muslimischen Bevölkerung zu wenig bekannt sei, daneben gilt die Stimmung unter Russlanddeutschen und anderen Zuwanderern aus Osteuropa als wenig erforscht. Zu spät, um im Bericht berücksichtigt zu werden, kam auch die Auseinandersetzung im Sommer um antisemitische Tendenzen in der Linkspartei. Schon im Frühjahr war Redaktionsschluss des Berichts, in einer Fußnote heißt es knapp, auf „nähere Betrachtungen“ zur Linkspartei werde bewusst verzichtet. Armin Pfahl-Traughber von der Fachhochschule des Bundes in Brühl, es habe „ein Zeitproblem“ gegeben. Die Linke sei „ein Thema, das wir uns für einen kommenden Bericht vorgenommen haben“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false