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Politik: Nicht nur Kerzen und Gebete

In Leipzig hält man die Erinnerung an den 9. Oktober 1989 wach – auch in einem neu gestalteten Museum

Von Matthias Schlegel

„Wie ihr Kinder euch zuhause Frieden in der Familie wünscht, so wünschen sich die Erwachsenen hier in der Kirche Frieden auf der Welt.“ Die Erst- bis Drittklässler hören der älteren Frau, die an diesem Vormittag mit den Schulkindern die Leipziger Nikolaikirche besucht, mit großen Augen und offenen Mündern zu. Draußen, auf dem Kirchhof, müht sich Nadine aus der 11. Klasse des Leipziger Heine-Gymnasiums mit Neuntklässlern aus dem sachsen-anhaltinischen Hettstedt ab. Dass vor genau 18 Jahren hier 70 000 Demonstranten 8000 bewaffneten Soldaten und Polizisten gegenüberstanden, dass der Aufstand der Aufrechten, der sich später friedliche Revolution nennen würde, auf diesem Platz den entscheidenden, gewaltlosen Sieg erfocht, haben die meisten von ihnen noch nie gehört. In dem Projekt „Schüler führen Schüler“ begleitet Nadine Heranwachsende zu den Schauplätzen des Herbstes 1989.

Am Nachmittag wird die Nikolaikirche zur feierlichen Stätte des Gedenkens – und des Friedensgebetes mit Pfarrer Christian Führer, der zu einer moralischen Instanz des Ostens wurde. Hunderte haben sich versammelt – wie seit Jahren an jenem denkwürdigen 9. Oktober. Bundesratspräsident Harald Ringstorff (SPD) hält die diesjährige „Rede zur Demokratie“. Der Ruf von damals „Wir sind das Volk“ gelte auch heute, sagt er. Aber heute brauche dieses Bekenntnis keinen Mut – lediglich die Rückbesinnung darauf, „dass Demokratie nur so gut oder so schlecht ist, wie wir – das Volk – sie machen“. Allen müsse klar sein: „Wo Demokraten Lücken lassen, stoßen Rechtsextremisten hinein.“ Beifall unterbricht die Rede des Regierungschefs von Mecklenburg-Vorpommern, als er für ein Verbot der NPD plädiert. Das Bekenntnis zur Demokratie setze die Auseinandersetzung mit der Diktatur voraus, sagt Ringstorff. Er erinnert daran, dass das ehemalige SED-Politbüromitglied Horst Sindermann mit Blick auf die Vorgänge in Leipzig kurz vor seinem Tod resümierte: „Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Da ist sie wieder, die besondere Aura dieses Aufbruchsortes. In ihr liegt das Selbstverständnis Leipzigs als eigentliche Wiege der friedlichen Revolution begründet. Das wird auch bei der Eröffnung der Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig durch Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) deutlich. Wenn in Berlin immer über eine Ausstellung zu Repression, Opposition und Widerstand nachgedacht werde – „hier in Leipzig ist sie“, sagt Rainer Eckert, der Direktor des Forums. Die Ausstellung, die jedes Jahr mehr als 100 000 Besucher anzieht, ist mit ihren 800 neuen Exponaten ein eindrucksvoller Ort des Erlebens von Geschichte. Fern jeder Verklärung nimmt der Alltag jetzt einen deutlich größeren Raum ein – dem Bedürfnis der Besucher folgend, wie Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, betont. „Alltag in der Diktatur“ zu zeigen, sei der Anspruch. Dass die gesamte Ausstellung nun vielleicht noch enger wirkt, mag gar etwas Symbolhaftes haben – wie die DDR selbst.

Am Abend leuchten auf dem Nikolaikirchhof wieder Kerzen. Aus den Lichtern formen die Bürger die Zahl 89. Wie hatte Pfarrer Führer beim Friedensgebet gesagt? „Weil Erinnerung Zukunft schafft, deshalb sind wir hier.“

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