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Politik: Nicht tot, aber mundtot

Von Peter von Becker

Der Fall ist bisher ohne Beispiel. Denn noch nie hat ein Literaturnobelpreisträger – und gar der aktuell gekürte – eine Lesereise ins demokratische Deutschland und die Verleihung einer Ehrendoktorwürde wie jetzt jene der Freien Universität Berlin absagen müssen. Absagen, weil er, Orhan Pamuk, diese Reise jetzt nicht riskieren will. Wenn er dabei um seine Sicherheit oder die seiner Familie fürchtet, dann ist er wohl zu stolz oder zu klug, dies im Augenblick zu sagen. Dem großen türkischen Schriftsteller sind dramatische Gesten völlig fremd, er ist ein besonnener, durch Bildung und internationale Erfahrung geprägter Bürger von Welt. Ein Weltbürger aus Istanbul, mit weiten, tiefen Wurzeln. Darum fühlt und formuliert er sich als türkischer Patriot – und als entschiedener Europäer. Eben darum geht dieser Fall viele an, vor allem die Türkei, aber auch Deutschland und jenes Europa, das in Istanbul noch nicht enden will.

Seit dem Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, einem Freund Pamuks, ist der Nobelpreisträger offenbar wieder ins Visier radikaler türkischer Nationalisten geraten. Wie Dink hat sich Pamuk gegen die Leugnung des vor neun Jahrzehnten begangenen Völkermords an den Armeniern in der Türkei gewandt; deshalb wurde auch er als „Verleumder des Türkentums“ gerichtlich belangt. Und obwohl Pamuk alles andere ist als ein politisierender Künstler, tritt er für die Meinungsfreiheit und für verfolgte Autoren ein. Eine Selbstverständlichkeit.

Aber keine Selbstverständlichkeit für die wachsende Zahl gewaltbereiter Nationalisten und religiöser, überwiegend islamischer Fundamentalisten. Es begann mit der Fatwa gegen Salman Rushdie und endet nicht mit den Morden an Dink oder dem niederländischen Filmemacher van Gogh. Was jetzt passiert, lässt sich darum nicht mit defensiv routiniertem Protest einfach unter den Kelim kehren.

In Deutschland wäre die Berliner Ehrendoktorfeier für Pamuk morgen vermutlich kaum mehr gefährdet gewesen als eine „Idomeneo“-Aufführung. Pamuk aber bleibt mit seiner Familie jetzt lieber im bewachten Haus in Istanbul, weil er die Stimmung in seiner Heimat so kurz nach dem Dink-Mord wohl nicht durch Auftritte im Ausland und die Beantwortung dann unvermeidlicher politischer Fragen anheizen möchte. Das freilich heißt: In der Türkei bewirkt heute ein Klima der Einschüchterung, dass selbst ein Nobelpreisträger ein Stück weit unfrei und mundtot gemacht wird.

Pamuk und seine Freunde, auch in Deutschland, haben gute kulturelle und im wahren Sinne entwicklungspolitische Gründe zu fordern, dass die Türkei im nächsten Jahrzehnt zur Europäischen Union gehören soll. Mit der eben beschlossenen Beibehaltung vordemokratischer Strafgesetze und der Duldung oder Ermunterung nationalistisch gewaltbereiter Milieus in Staat und Gesellschaft riskiert die Türkei jedoch ihre Zukunft. Ihre Zugehörigkeit zu Europa.

Orhan Pamuk könnte das ideale Symbol einer modernen, zwischen Orient und Okzident brückenschlagenden Türkei sein. Jener Türkei, die zuletzt auch zehntausendfach nach dem Mord an Hrant Dink für Meinungsfreiheit und Menschenrechte demonstriert hat. Diese Bewegung muss die EU, muss die Bundesregierung nun mit unmissverständlich ausgestreckter Hand unterstützen. Und mit der anderen Hand auf den Tisch schlagen, wenn es um unverzichtbare Werte geht. Europa braucht keinen Kreuzzug. Aber von Kreuzberg bis Ankara eine zweite, offensive Aufklärung.

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