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Politik: „Nicht wesentlich besser, nicht wesentlich schlechter“

Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier über die EU-Reformverträge, Schuldenbremsen und die Stärkung der Bundesländer

Eine Kommission unter Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger und SPD-Fraktionschef Peter Struck macht derzeit einen zweiten Anlauf zur Föderalismusreform. Ist das Grundgesetz hier in keiner guten Verfassung?

Doch. Das Grundgesetz ist in guter Verfassung. Gleichwohl es ist notwendig, über die vorhandenen Strukturen der bundesstaatlichen Ordnung nachzudenken.

Bei der ersten Runde der Staatsreform und auch jetzt hat man den Eindruck, dass nur Stellschrauben neu justiert werden sollen. Um eine gründliche Reform des in die Kritik geratenen kooperativen Föderalismus geht es nicht. Reicht das Justieren denn?

Die föderale Ordnung hatte sich immer mehr in Richtung eines unitarischen Bundesstaats entwickelt, bei dem die Gesetzgebung weitgehend beim Bund liegt, gleichzeitig aber die Landesregierungen – nicht aber die Landesparlamente – über den Bundesrat erheblichen Einfluss auf die Bundesgesetzgebung haben. Das Ziel der ersten Runde bestand darin, Zuständigkeiten zu entflechten, einem Verbundföderalismus entgegenzuwirken und den Landtagen wieder mehr Gesetzgebungsrechte zu verschaffen. Beispiele hierfür sind das Gaststättenrecht, der Ladenschluss, die Besoldung und Versorgung der Beamten und der Strafvollzug.

Manche nennen das ein mageres Ergebnis. Fehlt es den Landtagen an Courage, sich mehr Kompetenzen zu verschaffen?

Die Länder müssen ihre Gestaltungsrechte stärker nutzen. Das Problem ist, dass der Föderalismus zwar in Sonntagsreden hochgehalten wird. Wenn sich aber im Alltag die Länder anschicken, eigene Regelungen zu treffen, die womöglich noch zu wahrnehmbaren Unterschieden führen, setzen in der Öffentlichkeit die Klagen ein: Flickenteppich, Kleinstaaterei und so weiter. Man bejaht zwar grundsätzlich den Föderalismus, der ja auch der deutschen Verfassungstradition entspricht. Aber die Konsequenz, nämlich die Vielfalt auf bestimmten Gebieten, scheut man oft.

Was muss die Oettinger-Struck-Kommission erreichen, über das Mindesterfordernis einer Schuldenbremse hinaus?

Zu einem vitalen Bundesstaat gehört eine gewisse Selbstständigkeit der Länder, auch in der Finanzpolitik. Ich will selbst keine Ratschläge geben. Es wird zum einen diskutiert, den Ländern zumindest bei den Steuern, die alleine ihnen zufließen, auch das Gesetzgebungsrecht zu geben. Heute regelt der Bund etwa die Erbschaft- oder die Kraftfahrzeugsteuer, obwohl die Einnahmen den Ländern zustehen. Zum anderen aber gäbe es auch die Möglichkeit, den Ländern bei den großen Steuern mehr Eigenständigkeit zu geben, etwa durch ein Zuschlagsrecht. Dadurch könnten sie etwa bei der Einkommensteuer mehr gestalten. Wie auch immer: Eine Stärkung der Finanzautonomie der Länder wäre durchaus folgerichtig. Sie sind ja keine Verwaltungsprovinzen, sondern Staaten mit eigener Verfassungshoheit. Da wäre es konsequent, wenn man ihnen auch einen größeren finanzpolitischen Spielraum gäbe.

Stichwort Schuldenbremse: Die im Grundgesetz schon verankerte Grenze – die Bindung der Neuverschuldung an die Investitionen – hat regelmäßig versagt. Braucht man nicht viel härtere Regeln, um die Politik vom Schuldenmachen abzuhalten?

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Urteil zum Bundeshaushalt 2004 unlängst deutlich gemacht, dass die bestehende Schuldengrenze im Artikel 115 des Grundgesetzes ein stumpfes Schwert ist, und hat den Gesetzgeber aufgefordert, ein wirksameres Instrument zur Begrenzung staatlicher Schuldenpolitik zu entwickeln. Die Verschuldung ist nicht nur ein finanzpolitisches Problem und eine Frage der Generationengerechtigkeit, sondern hängt letztlich auch eng mit der künftigen Handlungs- und Steuerungsfähigkeit des demokratischen Rechts- und Sozialstaats zusammen. Wie strikt eine Schuldenbremse konkret ausfällt, ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, sondern ist dem Gesetzgeber vorbehalten und aufgegeben. Aber wirksamer als bisher muss sie sein.

Muss diese Schuldenbremse einheitlich sein? Oder können Bund und Länder eigene Lösungen anstreben, passend zu ihrer jeweiligen Situation?

Ich kann das nicht abschließend beurteilen, aber verfassungsrechtlich sind unterschiedliche Lösungen denkbar. Denn wie gesagt: Die Länder verfügen als Staaten über eine eigene Verfassungshoheit. Sie sind zwar an gewisse Grundsätze der Bundesverfassung gebunden, aber das schließt eigene Wege nicht aus. Das gilt auch für Schuldengrenzen.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa geht es derzeit um die Verfassung. Die am Donnerstag in Lissabon unterzeichneten Reformverträge, die die gescheiterte EU-Verfassung ersetzen, sind aber selbst von Bundeskanzlerin Angela Merkel wegen Unverständlichkeit kritisiert worden. Ist da eine gute Lösung gefunden worden?

Zunächst muss man festhalten, dass institutionelle Reformen in Anbetracht der in den letzten Jahren erfolgten Erweiterung der EU dringend geboten waren. Grundsätzlich ist daher die Reform zu begrüßen. Man muss aber auch sagen, dass schon der sogenannte Verfassungsvertrag nicht gerade überschaubar und leicht verständlich war. Insofern bringen die neuen Reformverträge keine Verschlechterung. Unser Grundgesetz schöpft nicht zuletzt daraus seine Akzeptanz und Integrationskraft, dass ihm die Bürger – jedenfalls alles in allem – klar und deutlich entnehmen können, was unsere staatlichen Grundnormen sind. Das ist bei den EU-Reformverträgen nicht in vergleichbarer Weise der Fall.

Wurde die Substanz des Vorhabens einer EU-Verfassung in die Verträge gerettet?

Man hat auf Symbolik – wie Flagge und Hymne – und auf die Bezeichnung Verfassung verzichtet, offenbar weil damit die Vorstellung von Staatlichkeit verbunden ist, die die Europäische Union aber so nicht hat. Abgesehen davon ist das Reformwerk jedoch nicht wesentlich anders als die frühere Version. Nicht wesentlich besser, nicht wesentlich schlechter. Das Subsidiaritätprinzip soll immerhin gestärkt werden, also die Vorgabe, dass Brüssel sich nur dann um eine Angelegenheit kümmern darf, wenn die Mitgliedstaaten das nicht können.

Wie viel Nationalstaat wird es damit denn künftig noch geben?

Geltendes Verfassungsrecht in Deutschland ist, dass die Übertragung von Souveränitätsrechten auf den Staatenverbund der Europäischen Union begrenzt ist. Es muss eine substanzielle Gesetzgebungsmacht bei Bundestag und Bundesrat bleiben. Allerdings ist diese Grenze im Einzelnen schwer zu ziehen. Ich hätte mir gewünscht, dass in den Reformverträgen die Abgrenzung dessen, was Brüssel tun soll und was bei den Mitgliedstaaten bleibt, präziser definiert worden wäre. Und man hätte auch darüber nachdenken können, ob bestehende Zuständigkeiten der EU nicht besser limitiert worden wären. Das ist nicht hinreichend geschehen. Man setzt eher darauf, dass das Subsidiaritätsprinzip funktioniert.

Dieses Prinzip gehört ja auch zum Wesenskern des Grundgesetzes, hat aber nicht verhindert, dass der Bund immer mehr und die Landtage immer weniger zu sagen hatten. Passiert nun das Gleiche auf europäischer Ebene: Brüssel immer mächtiger, die Mitgliedstaaten immer schwächer? Subsidiarität nach dem deutschen Modell also ohne strikte Zuständigkeitstrennung, heißt de facto doch Stärkung des Zentralismus.

Die Verlagerung von Zuständigkeiten nach oben, die wir in Deutschland über Jahrzehnte erlebt haben, hat in den letzten Jahren auch auf EU-Ebene stattgefunden. Jetzt wird versucht, das durch eine Art Frühwarnsystem zu verhindern: Noch bevor ein EU-Rechtsakt in Kraft treten kann, haben die Parlamente der Mitgliedstaaten das Recht zu intervenieren. Zudem können die nationalen Parlamente auch eine sogenannte Subsidaritätsklage gegen Brüssel beim Europäischen Gerichtshof erheben. Die nationalen Parlamente sollen also die natürlichen Hüter des Subsidiaritätsprinzips sein – die Praxis wird zeigen, ob sie diese Rolle auch wahrnehmen werden.

Viele Politiker werfen den Verfassungsrichtern vor, sie machten häufig mehr Vorgaben, als sie eigentlich sollten. Trifft diese Kritik, oder sprechen 6000 Klagen im Jahr dafür, dass die Bürger Karlsruhe als nötiges Gegengewicht wahrnehmen?

Das Ansehen des Verfassungsgerichts bei den Bürgern ist sehr groß. Viele Staaten haben eine Verfassungsgerichtsbarkeit, aber Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, in denen auch der einzelne Bürger eine Verfassungsbeschwerde einreichen kann. Das hat zur Reputation des Gerichts zweifellos beigetragen.

Anders gefragt: Wird Ihnen und Ihren Richterkollegen – frei nach Goethes „Faust“ – angesichts ihrer „Gottähnlichkeit“ denn nicht manchmal bange?

Das Bundesverfassungsgericht ist zwar letzte Instanz der nationalen Gerichtsbarkeit, seine Entscheidungen unterliegen gleichwohl der Kritik und Diskussion in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch in der juristischen Fachwelt. Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik hat nun einmal dem Bundesverfassungsgericht, wenn es angerufen wird, das Recht und die Aufgabe zugewiesen, letztverbindlich zu entscheiden, wie die Verfassung auszulegen ist. Das ist eine hohe Verantwortung, deren wir uns bewusst sind. Die größte Verantwortung liegt darin, dass das Gericht in der Lage ist, Akte des Parlaments, des unmittelbar demokratisch legitimierten Verfassungsorgans, zu kassieren. Das tut man nicht leichtfertig. Wenn aber ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, muss die Politik das akzeptieren.

Das Gespräch führten Albert Funk, Albrecht Meier und Hermann Rudolph.

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