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Auch in der Hauptstadt Ankara haben syrische Familien Zuflucht gefunden. Foto: Reuters

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Politik: Nicht wohlgelitten

Die Türkei hat bereits mehr als eine halbe Million Syrer aufgenommen Erdogan will die Grenze offen halten, doch die Ressentiments wachsen.

Istanbul - Die Hochzeitsgäste im südostanatolischen Sanliurfa hatten sich auf der Straße versammelt. Es gab Musik, die Feier kam in Gang. Doch plötzlich schlug die Stimmung um. Der Grund: Syrische Flüchtlinge sollen aus einem nahen Wohnhaus ihren Müll auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen haben. Es kam zu einer Schlägerei mit Steinen, Stöcken und Messern. Acht Menschen wurden verletzt.

Viele Syrer, die über die nur 50 Kilometer entfernte Grenze in die Türkei gekommen sind, sind nicht besonders wohlgelitten in Sanliurfa. Seit Ankunft der Flüchtlinge gebe es mehr Einbrüche und Straßenkriminalität, sagten die türkischen Hochzeitsgäste nach der Schlägerei der Polizei. „Es ist Zeit, dass jemand ,Halt’ ruft.“

Rund 500 000 Syrer hat die Türkei seit dem Beginn des Aufstandes gegen die Regierung von Baschar al Assad im März 2011 aufgenommen, die Kosten für die Versorgung der Menschen belaufen sich inzwischen auf zwei Milliarden Dollar. Ein Ende ist nicht abzusehen. Die Kämpfe in Syrien gehen weiter, es gibt keine Ansätze für eine politische Lösung.

Der Politologe Sedat Laciner rechnet deshalb damit, dass die Zahl der Flüchtlinge in der Türkei die Marke von einer Million erreichen könnte. Das werde wirtschaftliche, soziale und vielleicht auch politische Folgen haben, schrieb er in der Zeitung „Star“. Die Lage sei besorgniserregend. Selbst Parks in Istanbul, weit weg von der syrischen Grenze, sind inzwischen zur provisorischen Heimat syrischer Flüchtlinge geworden; nach Medienberichten halten sich rund 100 000 Syrer in der Bosporus-Metropole auf.

Selbst wenn Laciners Voraussage von einer Million Flüchtlinge nicht zutrifft, muss die Türkei schon heute eine halbe Million Menschen in ihre Gesellschaft integrieren. Die meisten Syrer hätten angenommen, dass sie nur vorübergehend in der Türkei unterkommen müssten, sagt Nihat Ali Özcan vom Politik-Institut Tepav in Ankara. „Aber inzwischen ist klar, dass die meisten noch lange nicht nach Hause gehen werden.“

Spannungen wie die in Sanliurfa zeigen, dass das Land noch ganz am Anfang dieser schwierigen Integrationsaufgabe steht. Türken in Istanbul berichten von syrischen Bettlern auf den Straßen der Metropole. „Da sprach mich einer an und wollte Geld, weil er Syrer sei“, berichtet ein junger Mann. „Ich habe ihm nichts gegeben und ihn gefragt: Zuerst bringt ihr unser Land durcheinander, und dann wollt ihr auch noch Geld von uns?“

Offiziell hält die Türkei bei ihrer „Politik der offenen Tür“ fest. Jeder Syrer, der vor der Gewalt in der Heimat flieht, soll in der Türkei Zuflucht finden können. Alles andere sei angesichts der humanitären Katastrophe beim Nachbarn nicht zu verantworten, argumentiert Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Bei vielen Syrern wird das Geld knapp. Arbeiten dürfen die Flüchtlinge nicht, aber weil sie trotzdem über die Runden kommen müssen, verdingen sie sich vielerorts als Schwarzarbeiter. Laut dem Politologen Özcan fällt in einigen Gegenden der Türkei das Lohnniveau, weil die Syrer für viel weniger Geld arbeiten als Türken. Das schafft weitere Ressentiments.

Erdogan-Kritiker fordern bereits, die offene Tür solle geschlossen werden. Die rechtspopulistische Zeitung „Sözcü“ rechnete kürzlich vor, welche innertürkischen Probleme die Regierung mit dem für die Syrer bereitgestellten Geld hätte lösen können.

Trotz aller Schwierigkeiten geht Politologe Özcan davon aus, dass die Türkei die Eingliederung der Syrer auf Dauer bewältigen wird. Die Türken hätten mit solchen Problemen einschlägige Erfahrungen. Bei der Republikgründung 1923 habe die türkische Bevölkerung zur Hälfte aus Flüchtlingen bestanden, die nach dem Ersten Weltkrieg aus allen Teilen des zusammengebrochenen Osmanischen Reiches nach Anatolien gekommen seien.

Auch in der jüngeren Vergangenheit habe sich die Türkei als aufnahmefähig bewiesen, sagt Özcan. Nach der Revolution im Iran 1979 und nach dem Golfkrieg vor 20 Jahren seien sehr viele Flüchtlingen gekommen. „Es wird Probleme geben“ bei der Integration der Syrer, sagt er voraus. „Aber sie werden das Land nicht überfordern.“ Thomas Seibert

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