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Politik: Nichts fliegt mehr

Nun will am Montag das britische Bodenpersonal streiken – in Großbritannien reden über 100 Gewerkschaften mit

Chaos statt Urlaub? Das Bodenpersonal auf den englischen Flughäfen Stansted, Gatwick und Manchester droht für diesen Montag mit Streik. Am sogenannten „Bank Holiday“, ein inoffizieller Feiertag auf der Insel, gehen die Gewerkschaften in die Offensive. Die Preise seien gestiegen, die Löhne nicht, teilte die Dienstleistungsgewerkschaft GMB mit. Eine Lohnerhöhung von drei Prozent hatte die Gewerkschaft als zu gering abgelehnt. Zwar gab es am Donnerstag erneut Gespräche zwischen Flughafenbetreibern und Arbeitnehmervertretern. „Wir müssen das neue Angebot aber erst unseren Mitgliedern vorlegen. Dann werden wir sehen, ob es weitergeht“, sagte Gewerkschaftsfunktionär Gary Pearce dem Sender BBC. Sollte die Gewerkschaft erneut ablehnen, droht ein Ausstand, von dem auch die Fluglinien Ryanair und Easyjet betroffen sein könnten.

Erst am vergangenen Mittwoch hatte die britische Transportgewerkschaft RMT die Muskeln spielen lassen. Mitarbeiter der Londoner U-Bahn hatten zu einem Ausstand aufgerufen, weil sie statt drei Prozent mehr Lohn fünf Prozent forderten. Jeden Tag nutzen 4,2 Millionen Fahrgäste die Londoner U-Bahn. In letzter Minute einigten sich Stadt und Gewerkschaft auf 4,9 Prozent mehr Geld.

Anders als in Deutschland werden Flughafenmitarbeiter und U-Bahnfahrer auf der Insel nicht von derselben Gewerkschaft organisiert: In Deutschland werden sowohl das Bodenpersonal auch U-Bahner mehrheitlich von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisiert. Noch, denn deutsche Wirtschaftsexperten warnen vor „englischen Verhältnissen“: Der ehemalige Vorsitzende der Verdi-Vorgängergewerkschaft ÖTV, Herbert Mai, hatte sich kürzlich besorgt über die Zersplitterung der deutschen Gewerkschaften geäußert. Seit den Arbeitskämpfen der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, der Lokführergewerkschaft GDL und der Pilotengewerkschaft Cockpit befürchten auch deutsche Politiker eine englische Gewerkschaftskultur.

Bisher galt die Tarifeinheit in Deutschland als unantastbar: Verhandelt wurde stets zwischen einem Arbeitgeber und einer Gewerkschaft. Trotz christlicher Kleinstgewerkschaften und einzelner Berufsverbände betrachtete selbst das Bundesarbeitsgericht eine Gewerkschaft je Konzern als Norm. Die deutschen Unternehmen wurden anders als in Großbritannien nicht monatlich von einer anderen Berufsgruppe lahmgelegt.

Im Königreich buhlen seit jeher mehr als 100 Gewerkschaften um Mitglieder: Allein im Dachverband TUC sind 65 Gewerkschaften organisiert, im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) sind es nach Fusionen nur noch acht Verbände. Gelegentlich grenzten sich die britischen Gewerkschaften auch aus weltanschaulichen Gründen voneinander ab. So haben die katholischen Schotten einen eigenen Dachverband gegründet. Inzwischen verlieren die Gewerkschaften im Königreich nicht mehr an Mitgliedern und haben 28 Prozent aller Arbeitnehmer organisiert.

In Deutschland gehören nur rund 20 Prozent der Beschäftigten einer Gewerkschaft an. In der IG Metall ist fast jedes fünfte Mitglied Rentner. Zwar konnten auch die britischen Gewerkschaften den „New Deal“ – das britische Pendant zur Agenda 2010 – nicht verhindern. Zuvor hatte in den 80er Jahren die konservative Premierministerin Margaret Thatcher die Macht des TUC stark beschnitten. Dennoch tritt er offensiver auf als seine deutschen Schwesterverbände. In der Bundesrepublik fallen im Jahresdurchschnitt weniger als vier Arbeitstage pro tausend Beschäftigte wegen Streik aus – in Großbritannien sind es 24. Derzeit werden in England unter den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Forderungen laut, sich vollständig von der sozialdemokratischen Labour-Partei des Premiers Gordon Brown zu lösen. Wenn Brown die Löhne nicht anheben wolle, sei Streik nicht ausgeschlossen. „Wir sind zurück“, sagte Harry Flechter von der Justizgewerkschaft Napo dem Tagesspiegel. Erstmals verlangt auch die Polizeigewerkschaft nach uneingeschränktem Streikrecht.

Die oppositionellen Konservativen bemühen sich nun um ein soziales Image, nachdem sie wegen Thatcher unter Gewerkschaftern jahrelang geächtet waren. In der 144-jährigen Geschichte des britischen Gewerkschaftsbundes TUC könnte Tory-Chef David Cameron der erste Konservative sein, der in diesem September auf einem Gewerkschaftskongress sprechen darf.

Dort werden die Delegierten vor allem ihren neuesten Erfolg feiern: Die britische Gewerkschaft Unite und die US-Stahlarbeiter-Organisation USW gründeten vor wenigen Wochen die erste transatlantische Gewerkschaft. Anhänger sprachen gar von einer „Weltgewerkschaft“. Mit ihr wollen die beiden Organisationen ihre Tarifpolitik gegen internationale Konzerne koordinieren. Skeptisch blieb die IG Metall: Fusionen von Gewerkschaften über Grenzen hinweg seien wegen der unterschiedlichen Traditionen schwierig, hieß es.

Der DGB hat auch im vergangenen Jahr mehr als hunderttausend Mitglieder verloren, noch vereint er 6,4 Millionen Kollegen. Der TUC hat im kleineren Großbritannien 6,5 Millionen Mitglieder organisiert.

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