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Der Nichtwähler ist scheu. Er zeigt sich nicht. Was selbst Wahlforscher über ihn wissen, ist wenig.

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Niedrige Wahlbeteiligung in Brandenburg und Thüringen: Der Nichtwähler, das unbekannte Wesen

Niemand sieht ihn und versteht, was er will. Dabei ist er längst zu groß, um sich zu verstecken. Er ist eher jung als alt und vermutlich nicht besonders gebildet. Trotzdem glauben viele, dass er das Richtige tut: Nichts.

Wenn man sich den Nichtwähler in diesem Land in einem Bild vorstellen müsste, dann vielleicht als … aber nein, das geht nicht. Er ist ein Wesen unbekannten Ursprungs, das mit der Zeit immer größer wird. Das wegen seiner schieren Größe Angst verbreitet, Ratlosigkeit auslöst. Wie ein Golem, oder nicht?

Ein Wesen, das böse ist, weil es sich nicht in die Ordnung fügt, sagen die einen, die meinen, man müsste in einer Demokratie die demokratischen Rechte wahrnehmen, statt sie durch Stimmenthaltung zu verschleudern. Ein Wesen, das das Richtige tut, wie andere behaupten, da der Nichtwähler das Recht der Demokratie für sich in Anspruch nehme, sich herauszuhalten – womöglich sogar in dem Vertrauen, dass die politischen Geschicke in seiner Heimat ohnehin in seinem Sinne geregelt würden.

Sicher ist: Der Nichtwähler ist scheu. Man weiß so gut wie nichts über ihn. Er zeigt sich nicht gern. Es gehört zu seinem Dilemma, sich bei der Größe, die er gewonnen hat, nicht mehr verstecken zu können, wie er es am liebsten täte. „Schlafender Riese“ wird er genannt, aber dazu gleich mehr.

Bei jeder Wahl gibt es die Möglichkeit, sich zu enthalten. Nur weil man in einem Raum ist, in dem eine Abstimmung durchgeführt wird, darf man nicht gezwungen werden, sich für oder gegen eine Option zu entscheiden. Die, die sich an einem Wahltag enthalten, weil sie dem Wahllokal fernbleiben, sind ein statistischer Schatten. Demoskopen machen aus ihm eine mathematische Größe, die die politischen Akteure in Brandenburg, Thüringen und auf Bundesebene gerade mächtig erschreckt. 51Prozent derjenigen, die in Brandenburg zur Wahl hätten gehen dürfen, haben es nicht getan, in Thüringen waren es 47,3 Prozent. In beiden Ländern ist dieser Anteil gestiegen.

Die Parteien sind "oligarchisch strukturiert" in Deutschland

In Brandenburg hätte der Nichtwähler also die absolute Mehrheit, wenn er sich politisch organisieren würde, was er aber wohl gerade nicht will. Eine ziemlich absurde Idee, eine Partei der Nichtwähler. Werner Peters hatte sie. Ob es eine gute Idee war, weiß er auch heute nicht genau, 16 Jahre nach Gründung seiner PDN, Partei der Nichtwähler. Er hielt sie für nötig. Am Telefon meldet sich der 70-jährige Hotelier mit sanfter, brüchiger Stimme. In Köln betreibt Peters ein Künstlerhotel, man kann sagen, dass eine unaufgeregte Freundlichkeit von ihm ausgeht. Er sei gerade in einer Sitzung, sagt er, ohne aber das Gespräch beenden zu wollen. Er ist solche Anrufe nach Wahltagen gewohnt, wenn der Wählerwillen interpretiert wird und knappe Ergebnisse mehrere Koalitionen möglich erscheinen lassen, wenn man sich schließlich fragt, wie anders die Wahl ausgegangen wäre, wenn die Nichtwähler sich beteiligt hätten, wie viel weniger kompliziert, und Peters erklären soll: Warum tun sie das eigentlich nicht?

Er spricht dann von einem „System, das sich verfestigt“ habe. Von „Establishment“. Dabei ist er gar kein Linker. Sondern CDU-Mitglied, Ortsvorstand in der Eifel. Damals war das ein Unterschied. Er weiß noch, dass es Nichtwähler in der alten Bundesrepublik praktisch kaum gab. 1953 lag die Wahlbeteiligung bei 85 Prozent. Ein Mittelwert, der bis zur Wiedervereinigung Bestand hatte. Nach dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt war die politische Auseinandersetzung 1972 so stark polarisiert, dass sogar 91 Prozent zur Bundestagswahl gingen.

Und er, Werner Peters, stimmte gegen Brandt, obwohl der „Mehr Demokratie wagen“ gefordert hatte, eine Losung, der Peters sich heute verschrieben hat. Die Parteien, sagt er auf seine bescheidene Weise, seien „oligarchisch strukturiert“. Er meint damit, dass selbst der dümmste Vorschlag wie eine Maut für ausländische Fahrzeuge gegen Einwände und gesunden Menschenverstand verfolgt werde, nur weil ein Politiker seine Reputation aufs Spiel gesetzt habe. Als ginge es um diesen einen. Ob man da den Frust der Nichtwähler nicht verstehen könne, die sich sagten: „Es tut sich doch nichts“?

Aber, Herr Peters, eine Partei für Menschen, die Parteien ablehnen, wie soll das gehen?

Ja, seufzt Werner Peters leise, beinahe unhörbar, es gebe eben zu wenige politisch motivierte Menschen.

Ein Brief an Helmut Kohl

Peters selbst war nie Nichtwähler. Als die CDU in den Parteispendenskandal verwickelt wurde, schrieb er Helmut Kohl einen Brief mit der Bitte, sich zu entschuldigen. Das Ergebnis ist bekannt. Peters trat aus. Aber Nichtwählen war keine Option. Für Peters gibt es drei verschiedene Nichtwählergruppen. Die faulen Leute, die aus Bequemlichkeit zu Hause blieben. Das abgehängte Prekariat. Und die bewussten Nichtwähler. Die seien die kleinste Gruppe. Wissen, was sie tun. Wissen auch um die Folgen. Haben keine Lust mehr, das zu ändern. Ihnen versucht Peters mit seinem Buch über den „schlafenden Riesen“ und einer idealistischen Finte entgegenzukommen. Denn er versteht sie ja. Nur zögen sie eben die falsche Konsequenz. Um „institutionelle Reformen“ durchzusetzen, bei denen etwa Regierungskoalitionen nicht mehr möglich wären, bräuchten nicht sie sich zu ändern. Sie müssten nur leider dann doch eine Stimme abgeben. Ihm.

Bei der vergangenen Bundestagswahl ist die PDN „noch mal“ angetreten, wie Peters sagt. Aber ein Erfolg war das nicht. Jedenfalls lässt Peters das Ergebnis unerwähnt, als er meint, seine Partei sei „als positiver Impuls“ begrüßt worden.

Tatsächlich besuchten ihn im Vorwahlkampf Reporter des „Spiegels“ für eine Titelgeschichte über den Nichtwähler, in der „F.A.Z.“, in „taz“ und „Welt“ wurde über den Einzelkämpfer wider den bürgerlichen Gleichmut berichtet. Peters und seinesgleichen würden „potenziellen Nichtwählern die Absolution erteilen“, urteilte der "Spiegel" kühn.

Das Politiksystem ist ein Marktplatz, sagen die Parteien selbst

Es ist angerichtet. Was jetzt noch fehlte am Wahltag in Brandenburg, war der Wähler.
Es ist angerichtet. Was jetzt noch fehlte am Wahltag in Brandenburg, war der Wähler.

© dpa

Braucht der Nichtwähler die Vergebung? Matthias Jung, Geschäftsführer Forschungsgruppe Wahlen, spricht von einer moralischen Verpflichtung besonders unter älteren Menschen, wählen zu gehen. Das gehöre sich einfach. „Jüngere handeln eher interessengeleitet. Sie fragen: Betrifft mich das? Ist das wichtig für mich?“ In der Vergangenheit ist die Wahlbeteiligung in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen stets unterdurchschnittlich gewesen, 2013 gaben nur 38 Prozent der Befragten an, „bestimmt zur Wahl zu gehen“. Da die Beweggründe zu unterschiedlich für ein einheitliches Bild seien, sei es allerdings Unfug, von „der Partei der Nichtwähler“ zu sprechen, so Jung.

Aktuelle Forschungen der Bundeszentrale für politische Bildung legen nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen Nichtwählertum und Bildung gibt. Je geringer die Bildung, desto wahrscheinlicher macht jemand von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch, da Bildung zumindest indirekt politische Interessen wecke. Allerdings entzieht sich die Frage nach den Motiven der Nichtwähler der seriösen Forschung, wie Matthias Jung einräumt. In Umfragen geben viele Menschen nicht zu, dass sie nicht wählen. Dadurch bekommen die, die aus Protest den Wahlen fernbleiben und das offen zugeben, überrepräsentativ viel Gewicht.

Das Politiksystem ist wie ein Marktplatz, auf dem Händler mit anderen Händlern um „die Gunst des Wählers“ konkurrieren. Das sagen die Parteien selbst. Doch die sind mit ihren ausdifferenzierten Gestaltungsplänen nicht mehr fähig, markante Unterschiede herauszuarbeiten. Erbittert gestritten wird meist nur über lokale Projekte, ungeliebte Baumaßnahmen, die aber gar nicht zur Abstimmung stehen. Das ist Segen und Fluch der postideologischen Ära, in der Kanzlerin Merkel einen defensiven Regierungsstil als Stabilitätsgarantie vermitteln kann.

Eine hohe Wahlbeteiligung ist ein Zeichen für schwelende Unzufriedenheit

Von selbst würde die Wahlbeteiligung aus einem Grund steigen, der nicht erfreulich wäre. „Eine hohe Wahlbeteiligung ist vor allem ein Zeichen für schwelende Unzufriedenheit“, sagt Jung. Der Frust komme politischen Bewegungen zugute, die auf Protest setzen. Die AfD ist dafür das jüngste Beispiel mit Ergebnissen, die an Erfolge der Grünen erinnern. Auch deren Wähler sagten in der Protestphase des Öko-Lagers: Wir wissen es besser.

Sie haben viel gemein mit dem „hochmütigen Nichtwähler“, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert die Verweigerer genannt hat, die über exzellente Bildung verfügen und sich schlicht für zu vornehm halten, um einfachen Abgeordneten ihre Stimme zu geben. Oder für schlauer. So schlau, dass Peter Sloterdijk, der Sphären-Philosoph, seinen Politikdünkel in die Formulierung goss: „Bisher hieß politisch vernünftig sein, das geringere Übel zu wählen. Doch was tun, wenn ich nicht mehr weiß, wo das geringere Übel liegt?“ Dieselbe Tonlage stimmte Fernsehphilosoph Richard David Precht in einer Umfrage der „Zeit“ an. Da eine ehrliche Diskussion über die Zukunft der Demokratie und die Rolle der Parteien von diesen nicht gewünscht sei, meinte Precht „selbst die Wahl zwischen Wählen oder Nichtwählen nicht wirklich wichtig“ finden zu müssen.

Es ist bei den Eliten immer der Verdruss über einen Mangel an großer Perspektive, die sie an der Demokratie zweifeln lässt. Der Debatten- und Meinungsbildungsprozess in einem Land wie Deutschland genügt ihren Ansprüchen nicht. Peter Sloterdijk geht in seinem Furor weiter als andere. Aber es ist symptomatisch, wie er bei der Rede zur Verleihung des Börne-Preises seine Kritik aus einer Allzuständigkeit des Parteienstaates ableitet, da der „im Prozess der Demokratie mehr und mehr auch für seine Feinde verantwortlich ist“. Die Demokratie ist also mithin selbst schuld, wenn sie seinesgleichen, Demokratieverächter, hervorbringt.

Früher wurden die Desinteressierten „mitgeschleppt“ zur Wahl. Von der Familie, von Freunden oder Vereinsmitgliedern. Die erwarteten von einem wie von sich selbst, die eine Stimme, die man hatte, abzugeben. Seit den 60er Jahren verlieren Bindungen zu Kirche, Gewerkschaft und Familie an Kraft. Das Individuum nimmt sich nicht mehr so stark als gemeinschaftliches Wesen wahr. Bei Fußballspielen und Konzerten vielleicht noch, ja. Aber schon in den Pendlerzügen verliert sich dieses Gefühl der auf ihre Smartphones Starrenden. Ist der befriedete Mensch dadurch, wie Sloterdijk in seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ tönt, aber schon ein von demokratischen Entscheidungen um seine historische Verankerung gebrachtes Geschöpf? Bedeutet die Wahl zu haben, Traditionen abzuschleifen, sich von Überlieferungen und Gepflogenheiten abzukoppeln?

Würde politisch anders entschieden bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent?

Die Menschen lebten in einem „Klima der Desorientierung“, in dem das „Pathos der Wahlfreiheit“ seine Heimstätte habe. Das heißt nichts anderes, als dass das Schicksal des Demokraten ist, keine Wahl zu haben. Wie in der DDR, deren Erbe in den ostdeutschen Bundesländern zu einer notorisch geringeren Wahlbeteiligung führt – 2013 lag sie bei 64,7 Prozent.

Zettel falten nannte sich die Prozedur unter dem SED-Regime, bei der über die Kandidaten der Nationalen Front abgestimmt wurde: Wahlzettel nehmen, vor aller Augen zusammenfalten, in die Urne werfen. Wer die Wahlkabine aufsuchte, machte sich der Kritzeleien oder Kommentare auf Wahlzetteln verdächtig, die trotzdem meist als gültig eingestuft wurden – schließlich mussten am Ende immer mehr als 99 Prozent Wahlbeteiligung und davon noch einmal 99 Prozent Zustimmung herauskommen –, wurden von der Staatssicherheit analysiert und verfolgt. Nur einmal, bei der Kommunalwahl im Mai 1989, sank die Zustimmung nach offiziellen Angaben unter 98 Prozent – ein Zeichen der Schwäche, ein Zeichen, das jeder Bürger verstand. Es gab auch hier Nichtwähler und Neinsager. Und der Opposition gelang es sogar, durch die heimlich koordinierte Auszählung der Stimmbezirke erstmals Fälschungen nachzuweisen. Dabei kam heraus: Nichtwähler waren auch in der DDR nicht allein.

Würden politische Entscheidungen heute anders getroffen bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent? Die großen Parteien wären mächtiger. Aber es könnten immer noch die falschen Entscheidungen fallen. Eine Wahlbeteiligung, die relativ bleibt, mal relativ hoch, mal nicht, verankert eine gesunde Skepsis im politischen System: Niemand kann sich sicher sein.

Trotzdem sind sie am Tag nach der Brandenburgwahl in Oderberg nicht gerade stolz darauf, dass nur 28 Prozent von ihnen eine Stimme abgegeben haben. Eine Cafébesitzerin kennt die Gründe: „Weil Oderberg immer behandelt wird wie der letzte Arsch der Welt. Das war schon zu DDR-Zeiten so.“ Früher habe sie gewählt, die letzten zwei Male nicht mehr. Eine landschaftlich so schöne Gegend verkomme immer weiter. „Die ganzen kaputten Häuser, nicht mal einen Radweg gibt es.“ Da ist sie, die schwelende Unzufriedenheit. Aber Beteiligung sieht anders aus.

Sollte sich jemand mal für die Belange der kleinen Unternehmen einsetzen, sagt die Cafébesitzerin, ihre Stimme hat er.

Mitarbeit: Robert Ide, Moritz Honert, Katja Füchsel

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