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Politik: NMD: Abwehr um jeden Preis

Es war vor genau acht Monaten an demselben Ort: Damals hieß der amerikanische Präsident Bill Clinton, und der hielt an der National Defense University ebenfalls eine programmatische Verteidigungsrede. Clinton allerdings kam zu dem Schluss, dass die Technologie noch nicht weit genug entwickelt sei, um einen Verteidigungsschild gegen nukleare Waffen (NMD) zu bauen.

Es war vor genau acht Monaten an demselben Ort: Damals hieß der amerikanische Präsident Bill Clinton, und der hielt an der National Defense University ebenfalls eine programmatische Verteidigungsrede. Clinton allerdings kam zu dem Schluss, dass die Technologie noch nicht weit genug entwickelt sei, um einen Verteidigungsschild gegen nukleare Waffen (NMD) zu bauen. Deshalb legte er das Projekt auf Eis. Sein Nachfolger ist diesbezüglich sehr viel optimistischer, oder ambitionierter, oder naiver, oder leichtsinniger - je nachdem, wie man dem Projekt eines Verteidigungssystems gegen eine begrenzte Anzahl atomarer Sprengköpfe gegenübersteht. George W. Bush lässt keinen Zweifel daran, dass er entschlossen ist, irgendeine Form von NMD zu verwirklichen.

Am Montag, also einen Tag vor seiner Grundsatzrede, telefonierte Bush deshalb mit den Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada sowie mit Nato-Generalsekretär George Robertson. In den jeweils etwa zehn Minuten langen Gesprächen stellte er seine Pläne vor. Zentral ist die Überlegung, dass die Strategie der gegenseitig zugesicherten Zerstörung (mutual assured destruction), die während des Kalten Krieges die Stabilität zwischen den rivalisierenden Supermächten garantierte, nicht mehr alleine tragfähig ist. Gegen eine Reihe von Gefahren nütze sie gar nichts.

In Bushs Bedrohungsanalyse kommen zum einen Terrororganisationen und Staaten wie der Irak, Iran oder Nordkorea vor, die eines Tages versucht sein könnten, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen. Und da sind zum anderen die vielfältigen Möglichkeiten eines versehentlich ausgelösten Raketenabschusses. Aus all diesen Gründen sei es erforderlich, dass die Abschreckung, die bislang ausschließlich auf der Vergeltungsoption basierte, durch ein defensives Moment ergänzt wird.

Die Initiative der neuen US-Regierung ruht auf vier Säulen. Erstens auf der Botschaft, dass weder Kosten noch Mühen gescheut werden, um den Aufbau eines nuklearen Verteidigungsschildes voranzutreiben. Ob dieser am Ende land-, see- oder weltraumgestützt sein wird, ist völlig offen.

Bush habe noch keine genaue Vorstellung darüber, wie das System aussehen und funktionieren kann, heißt es im Weißen Haus. Der Wille ist stark, die technologischen Probleme weitgehend ungelöst.

Die bislang günstigste Prognose stellt den Aufbau erster NMD-Komponenten für das Jahr 2004 in Aussicht.

Um seine Pläne gegen den Verdacht zu immunisieren, er strebe mit ihrer Hilfe eine neue militärische Überlegenheit der USA an, hat Bush sie, zweitens, an drastische Abrüstungsinitiativen gekoppelt, die Washington sogar einseitig vollziehen wird. Über etwa 7200 Nuklearwaffen verfügen die Vereinigten Staaten zur Zeit. Im Start-II-Vertrag, der schon 1993 abgeschlossen wurde, haben sie sich zu einer Reduzierung auf 3500 verpflichtet. Clintons Regierung war bereit, bis auf 2500 herunterzugehen. Bush hat nun ebenfalls betont, er wolle lediglich die niedrigste Zahl beibehalten, die für die Abschreckung unbedingt notwendig sei. Nach Expertenmeinung sind das nicht mehr als 1500. Außerdem wird Bush nuklearwaffenbestückte Bomber und U-Boote aus dem Verkehr ziehen.

Drittens hat Bush, jedenfalls implizit, ein Ende des ABM-Vertrages mit Russland in Aussicht gestellt, der den Aufbau umfassender Raketenabwehrsysteme verbietet. US-Regierungsvertreter sagen bereits offen, dass der 1972 geschlossene Vertrag "verändert, ersetzt oder gekündigt" werden muss. Der ABM-Vertrag galt lange Zeit als Schlüsselelement der Strategie der gegenseitig zugesicherten Zerstörung. Nicht nur in Moskau, sondern auch in vielen europäischen Hauptstädten würde dessen einseitige Aufkündigung durch die USA als eine gefährliche Provokation verstanden. In Washington wächst dagegen die Zuversicht, dass Russland entsprechend kompensiert werden kann. Der Widerstand Moskaus sei nicht prinzipieller, sondern taktischer Natur, heißt es.

Bush will, viertens, die Europäer mit ins Boot nehmen. In der kommenden Woche sollen US-Diplomaten nach Europa reisen, um die Verbündeten zu konsultieren. Im Juni wird Bush einen Nato-Gipfel, im Juli ein Treffen der sieben führenden Indstrieländer besuchen. Bis dahin, so hofft man im Weißen Haus, substanzielle Fortschritte zu erzielen. Die Verbündeten werden freilich nur "konsultiert". Ein Veto-Recht haben sie nicht. Sie dürfen ihre Meinung sagen, und die USA überlegen dann, welche Konsequenzen sie daraus ziehen.

Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hat Bush bislang nicht gesprochen. Er hat ihm noch nicht einmal ein Treffen in Aussicht gestellt. In diesem Monat wird allerdings der russische Außenminister Igor Iwanow in Washington erwartet. Einen Verhandlungsspielraum über NMD sieht freilich auch dessen amerikanischer Amtskollege Colin Powell nicht. "Iwanow muss ganz einfach verstehen, dass wir überzeugt sind von diesem Projekt und es deshalb vorantreiben", sagt Powell.

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