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Politik: Noch ist Polen halb verloren

SCHEITERT DER EU-GIPFEL?

Von Christoph von Marschall

Das ist nun also der Dank für Polenfreundschaft. Kein anderes Land hat Polen so unterstützt bei seiner Rückkehr in die europäische Familie wie Deutschland, ob die Kanzler nun Kohl oder Schröder hießen. Beim EUGipfel in Nizza hat die Bundesregierung sich sogar gegen die französischen Freunde gestellt, um für Polen die gleichen Stimmrechte im Ministerrat durchzusetzen, wie sie Spanien mit ebenfalls rund 40 Millionen Bürgern hat. Doch nun droht Europas Verfassung an Polen zu scheitern. Das Neumitglied beharrt auf der Nizza-Regelung, will das demokratischere Zählsystem im Verfassungsentwurf blockieren.

Nein, Polen ist nicht der einzige Störenfried. Aber Spanien weiß, wann es einlenken muss – für eine Gegenleistung. Es ist legitim, seine Interessen zu vertreten. Doch es erschreckt, wie schnell Warschau seinen Kredit in Europa verspielt hat. Ob in Berlin oder bei der EU in Brüssel: Jahrelang sprachen die Eliten mit Sympathie über Polen, über die Rolle der Solidarnosc beim Sturz der kommunistischen Diktaturen, die Verdienste um die Einigung Deutschlands und Europas – und die historische Gerechtigkeit, die der EU-Beitritt bedeutet. Heute sind viele enttäuscht, fühlen sich getäuscht. Es geht um die Zukunft einer EU, die sich auf Konsens und Kompromisse gründet. Wird Polen zum Spaltpilz, weil es Stolz und Egoismus über das akzeptierte Maß hinaus pflegt?

Dies ist nicht der erste EU-Gipfel, der beim Beginn schon vor dem Scheitern steht. Stets gab es am Ende einen Kompromiss: einen Ausgleich zwischen nachvollziehbaren Interessengegensätzen. Das ist diesmal anders. Die irrational scheinenden Motive sind wichtiger als die rationalen. Was immer Polen anführt, ist bei näherem Hinsehen schwer nachvollziehbar. Es verliert überhaupt nicht an Einfluss. Nach der Nizza-Formel hat es knapp unter acht Prozent, nach der Verfassungsformel knapp über acht Prozent der Stimmen im Ministerrat. Das Gewicht der kleinen Länder sinkt, wenn nach der Bevölkerungszahl abgestimmt wird; die großen gewinnen, besonders Deutschland mit seinen 80 Millionen Bürgern. Nur Polens Abstand zu Deutschland wächst, aber nicht zu Polens Lasten.

Orientierungslos wirkt auch Polens Suche nach Bundesgenossen. Spanien opponiert ähnlich hart, weil Nizza ihm mehr Verhinderungsmacht einräumt als die neue Formel. Aber das wird sich bei den Finanzverhandlungen gegen Polen richten: Spanien will möglichst wenig Geld an die armen Staaten im Osten abgeben. Auch Polens Flirt mit den Kleinen wirkt abwegig, es gehört zu den großen sechs der neuen EU. Die einzige Ratio gilt der Innenpolitik. Die Regierung Miller ist schwach, eine populistische Opposition konnte den Streit zu Millers Überlebensfrage stilisieren: „Nizza oder der Tod“.

Es geht also um Gefühle, um die Spannung zwischen Polens Anspruch auf eine ihm gebührende Stellung in Europa und die Angst, sie vorenthalten zu bekommen oder nicht ausfüllen zu können. Die Umstellung ist für alle schwierig, auch für die Altmitglieder. Polen ist kein EU-Kandidat mehr, kein Bittsteller, sondern Partner, als einziges großes Land unter den zehn neuen. Aber den Bürgern fehlt das Verständnis, wie Europa funktioniert. Und der Regierung die Erfahrung, dass man in der EU niemals nie sagen sollte: um Spielraum zu behalten. Frankreichs Präsident Chirac hat die Haltung des verletzten Stolzes verstärkt mit der Bemerkung, die Neuen sollten den Mund halten und warten, bis sie gefragt werden.

Will die EU, will Deutschland Polens Gewicht akzeptieren, auch wenn es Fehler macht – und ihm helfen, sich in die EU zu finden? Oder es dem Störenfried beim Gipfel mal so richtig zeigen? Und erkennt Polen, wer seine Freunde sind? Noch ist Polen nicht verloren für Europa.

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