zum Hauptinhalt
Erinnerungen an die Vergangenheit kommen hoch, seit pro-britische Protestanten in Belfast Autos anzünden und Polizisten angreifen.

© Reuters

Nordirland: Der Zorn der vergessenen Unterschicht

Die Protestanten in Nordirland fühlen sich um die Früchte des Friedensprozesses betrogen und fürchten um ihre Identität. Ihrer Wut machen sie mit Gewalt Luft. Auch in der Nacht zum Dienstag gab es erneut Krawalle.

Die Lage in Belfast gerät immer mehr außer Kontrolle. In der Nacht zum Montag attackierten protestantische Jugendliche die Polizei im Ostteil der nordirischen Hauptstadt mit Wurfgeschossen und Brandbomben. In der Nacht zum Dienstag gingen die Auseinandersetzungen weiter und die Polizei setzte Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die Demonstranten ein. Es war die fünfte Krawallnacht in Folge. Am Samstag wurde gar auf Polizeibeamte geschossen. Sprecher des Polizeiverbandes und hohe Offiziere beschuldigten die illegalen Untergrundverbände der Protestanten, die Gewalt zu koordinieren.

Seit der Belfaster Stadtrat am 3. Dezember beschloss, die britische Flagge nicht mehr täglich über dem Rathaus zu hissen, sondern nur noch an gut zwei Dutzend ausgewählten Tagen, ist die Gewalt eskaliert. Die Protestanten sehen durch die Entscheidung die britische Identität bedroht, obwohl das nordirische Parlament in Stormont die britische Flagge nicht öfter aufzieht. Der Beschluss des Stadtrates stellte einen Kompromiss dar, den die überkonfessionelle, großteils bürgerliche Allianzpartei vorgeschlagen hatte. Die beiden pro-britischen, unionistischen Parteien hatten im Vorfeld des Stadtratsbeschlusses zu Protestdemonstrationen aufgerufen. Von der Gewalt versuchen sie sich nun aber zu distanzieren. Am Sonntag trafen sich unionistische Politiker mit Vertretern von protestantischen Kirchen, um einen Ausweg zu finden, doch die Sprecher der Demonstranten verweigerten die Teilnahme. Vereinzelt fordern sie die Rückkehr zur britischen Direktverwaltung – ein völlig chancenloses Anliegen.

Die schwelende Gewaltbereitschaft der protestantischen Unterklasse entspringt dem Gefühl, im nordirischen Friedensprozess zu kurz gekommen zu sein. Tatsächlich sind die anfänglich erfolgreichen Versuche, eigene politische Parteien aufzubauen, inzwischen kläglich gescheitert. Die Politisierung der protestantischen Unterprivilegierten nach dem Vorbild der Sinn-Féin-Partei, die aus der Irisch-Republikanischen Armee herausgewachsen war, gelang nicht; die beiden etablierten Unionistenparteien vermögen diese Schichten immer weniger zu repräsentieren. In den Jahren seit dem bahnbrechenden Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 wurde versäumt, die in den Institutionen verankerte Zusammenarbeit an die Basis zu bringen. Die Mauern, die Katholiken von Protestanten trennen, sind länger und höher geworden. Die regierende Allparteien-Koalition repräsentiert zwar auch die politische Mitte, sie wird aber von den beiden politischen Kolossen dominiert: Sinn Féin und die einst von Pfarrer Ian Paisley gegründete Democratic Unionist Party haben Nordirland de facto untereinander aufgeteilt. Sie kümmern sich immer stärker um die Wünsche ihrer eigenen Klientel und vernachlässigen dabei das Gemeinwohl.

Bei der protestantischen Unterschicht wird die Ohnmacht noch durch eine Bildungsmisere verstärkt: Nur wenige Jugendliche bemühen sich um eine gute Ausbildung, da ihre Eltern sie dabei kaum unterstützen. Sie sind leicht zu manipulieren, sei es durch die paramilitärischen Verbände, sei es durch die Rhetorik der unionistischen Parteien.

Hinzu kommt die demografische Entwicklung. Die Volkszählung von 2011 hat ergeben, dass 41 Prozent der Nordiren einen katholischen Hintergrund haben und 41,8 Prozent einen protestantischen. Das bedeutet zwar nicht, dass es bald eine Mehrheit für die irische Wiedervereinigung gäbe, es unterstreicht aber eindeutig die Fragilität der protestantischen Identität in Nordirland.

Martin Alioth

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false