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Eritrea ist eins der ärmsten Länder der Welt. Lebensmittel haben sich in den letzten Jahren stark verteuert.

© Klaus Becker

Not in Eritrea: Wer kann, der flieht

In Eritrea bestimmen Not und Hoffnungslosigkeit das Leben. 360.000 Eritreer sind in Europa bereits als Flüchtlinge registriert. Monatlich machen sich 5000 weitere auf den Weg nach Europa.

Es ist Freitagabend und in Eritreas Hauptstadt Asmara trifft sich die Jugend auf der Flaniermeile – der Harnet Avenue. Die bröckelnde Prachtkulisse aus wunderschönen Art-Déco-Bauten und Fassaden der klassischen Moderne liegt nahezu in kompletter Dunkelheit. Weil Straßenlaternen und Neonreklamen fehlen, sind auch die hochgewachsenen Palmen auf den Gehwegen nur zu erahnen. Vor einem der elegantesten Gebäude der Stadt – dem Cinema Impero – hat sich eine Warteschlange vor der Kasse gebildet.

Im Kino träumt sich manch einer in eine schönere Welt. Neun Lichtspielhäuser hat die Stadt zu bieten, in der das Durchschnittsalter der Bevölkerung gerade mal 19 Jahre beträgt. Wie viele der anstehenden jungen Leute mögen schon damit geliebäugelt haben, der Familie Lebewohl zu sagen, um in Europa frei und selbstbestimmt leben zu können? Die Geschichten, die man sich hier erzählt, handeln vor allem vom großen Glück der Geflüchteten. Von einer Zukunft ohne Not, Hunger, Bespitzelung und Drangsalierung durch den Staat. Von denen, die sich nun endlich etwas leisten und sogar einen selbst gewählten Beruf ergreifen können.

So wählen viele die gefährliche, nicht selten tödliche Alternative und versuchen, ins gelobte Europa zu kommen – rund 5000 jeden Monat. 360.000 Eritreer sind nach UN-Angaben derzeit in Europa als Flüchtlinge registriert. Allein im vergangenen Jahr landeten – so gibt es der das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR an – 34.500 Eritreer in Italien und Malta.

Davit wollte nicht mehr lebend nach Eritrea zurück

Der 21-jährige Davit, der sich schon so lange nach Freiheit sehnte, hat es nicht geschafft in ein besseres Leben. Zwei Wochen Flucht hatte er bereits hinter sich, als Schlepper im Sudan ihn festhielten und weitere 2000 Dollar von seinen Angehörigen erpressen wollten. Dabei hatten Verwandte mühsam das ursprünglich verlangte Fluchtgeld angespart. Eheringe waren verkauft und andere Habseligkeiten veräußert worden, um 2000 Dollar zusammenzubekommen. Zur Strafe schnitten ihm die Schlepper schließlich mehrere Finger ab. Mit verstümmelten Händen verfrachtete man ihn zurück an die eritreische Grenze. Richtung Heimat also, in der ihm mindestens fünf Jahre Gefängnisstrafe drohten.

„Ich will lieber tot als lebendig wieder zurück“, sagte er den behandelnden Ärzten im Halibet-Hospital in Asmara. Zwischen wartenden Lastwagen habe er sich deshalb selbst mit Benzin übergossen und angezündet. Mit schwersten Verbrennungen liegt Davit nun im Krankenhaus. Seine Eltern wachen Tag und Nacht in seiner Nähe. Flößen dem Jungen Cola ein, verscheuchen Fliegen, die sich in die Brandwunden setzen. Davits ältere Schwester Najuma kann gar nicht glauben, dass ihr Bruder gescheitert ist und nicht einmal klar ist, ob er seine schlimmen Verbrennungen überlebt. „Natürlich hatte er einen großen Traum“, sagt sie weinend. Aber ein Verbrechen sei es ja wohl nicht, sich nach einer Zukunft zu sehnen.

Heimat ohne Perspektive

Die 33-jährige Abrihet ist gerade zu Besuch bei Verwandten in Eritrea. Sie lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Deutschland, konnte dort studieren und in Frankfurt einen Beruf ergreifen, der sie erfüllt. „Es geht mir wirklich nahe zu sehen, dass junge Menschen in meinem Heimatland so gar keine Perspektive haben. Am liebsten würde ich sie alle mitnehmen“, sagt sie. Ihre Tante, die große Angst hat, der jüngste Sohn könne Fluchtgedanken hegen, hat sie gerade gebeten, dem 18 Jahre alten Cousin derartige Pläne auszureden. „Aber was kann ich ihm schon sagen?“, fragt Abrihet. „Er soll warten, ob es eines Tages besser wird? Ich kann verstehen, dass er daran nicht glaubt.“

Im Zentrum Asmaras schlängeln sich abends jede Menge knallgelbe Taxis durch den Verkehr. Ampeln sind zwar im Straßenbild präsent, aber nicht eine einzige funktioniert. Es scheint, als schalte die Stadt grundsätzlich nicht mehr in den Funktionsmodus. Im Laufe des Tages fällt immer wieder der Strom aus. Am Anfang der Harnet Avenue wartet eine Pizzeria auf Gäste, ein Stück weiter ein Spaghetti-House. Als Asmara noch italienisch besetzt war, sollte es zu einem neuen Rom, dem „Africa Orientale Italiana“ werden. So jedenfalls hatte es sich Mussolini vorgestellt, der nach 1935 großes imperialistisches Engagement in Ostafrika zeigte.

Der Fluchtgedanke ist in Eritrea omnipräsent. Denn wer, wie die meisten hier, im „Staatsdienst“ arbeiten muss, kann sich kaum etwas leisten. Nur etwa 30 Euro monatlich werden gezahlt für den National Service, dem sich keiner verweigern kann. Hat man Glück, wird man nur kurze Zeit „eingezogen“, es können aber auch 30 Jahre Knechtschaft daraus werden.

Eltern wissen nicht, wie sie ihre Kinder durchbringen sollen, junge Leute sehen keine Zukunftsperspektive für sich in diesem Land. Etwa 39 Prozent der Kinder unter fünf Jahren haben Untergewicht – so hat es die UN in ihrem jüngsten Untersuchungsbericht festgehalten. Einfach mal einzukaufen, was in der Küche gerade fehlt, ist in den meisten Haushalten nicht möglich. Viel zu teuer sind die Lebensmittel, deren Preise sich in den vergangenen vier Jahren mehr als verdoppelt haben. Ein Kilo Kartoffeln kostet genau wie ein Liter Milch umgerechnet zwei Euro, ein Kilo Mehl vier Euro.

Als absolut aussichtslos empfand auch Davit seine Lage in Eritrea. Keine Chance auf einen selbst gewählten Beruf, keine Aussicht auf ein gutes Gehalt. Schon die zwölfte Klasse an weiterführenden Schulen – die Mädchen und Jungen sind dann etwa 17 Jahre alt – findet zu Teilen in militärischen Ausbildungslagern statt. Etwa sieben Monate dauert die Grundausbildung für den National Service, die jeder absolviert haben muss, der zum Abitur zugelassen werden möchte. Auch Davit hatte sie hinter sich gebracht – und sofort danach entschieden, nicht auf ewig Sklave der Regierung sein zu wollen. Obwohl seine Flucht gut vorbereitet und die Verwandtschaft großzügig „gespendet“ hatte, hat er es nicht geschafft. Sein Kämpferherz hörte nach zehn Tagen in der Klinik auf zu schlagen.

Britta Surholt

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