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Das Gelände des früheren KZ Auschwitz

© AFP

NS-Verbrechen: Was tat Johann Breyer in Auschwitz?

In Deutschland könnte es noch einen NS-Prozess geben. Johann Breyer, früher Wachmann in Auschwitz, sitzt nun in den USA in Haft. Eine Rekonstruktion der Geschichte seines Lebens.

Erst nehmen sie uns das Pferd und jetzt dich, sagt die Mutter, bevor er zur Musterung geht. Sie hat Angst, dass ihr einziger Sohn in den Krieg ziehen muss. Aber Johann Breyer geht nicht an die Front. Er wird Wachmann im Dienst der SS, erst in Buchenwald, dann in Auschwitz. Wie kommt ein slowakischer Bauernsohn an diesen entsetzlichen Tatort des Holocaust? Und vor allem: Was hat er dort getan? Kann und muss man ihn dafür verantwortlich machen, auch noch heute? Diese Fragen beschäftigen rund 70 Jahre später die Justiz in Deutschland und den USA. Dort, in seiner Wahlheimat Philadelphia, sitzt Johann Breyer jetzt in Haft. Denn in Deutschland gibt es einen Haftbefehl gegen ihn. Der Tagesspiegel hat mehrere hundert Seiten deutsche und amerikanische Akten ausgewertet. So lässt sich nun erstmals Breyers Lebensgeschichte nachzeichnen – aus juristischen Dokumenten und seinen eigenen Aussagen.

Johann Breyer wird am 30. Mai 1925 in einem kleinen slowakischen Dorf in der Hohen Tatra geboren, im selben Haus, in dem sein Vater zur Welt kam. Die meisten der rund 100 Dorfbewohner sind deutschstämmig, man identifiziert sich über die deutsche Sprache und Kultur, auch wenn alle einen tschechoslowakischen Pass haben. Ihre Familien wohnen seit vielen Generationen in Neuwalddorf (Nová Lesná). Auch Breyers Muttersprache ist Deutsch. Seine Eltern haben einen kleinen Bauernhof, zwei Pferde, vier Kühe, Schweine und Hühner. Sie kommen gerade so über die Runden, was sie nicht selbst anbauen, kaufen sie im Dorfladen. Nach acht Jahren Volksschule und zwei Jahren Gymnasium bricht Breyer die Schule ab. Er muss auf dem elterlichen Hof mitarbeiten.

Als einziger Sohn muss er nicht an die Front

Im Dorf gibt es keinen Strom, keine Radios. Wichtige Nachrichten verkündet ein Ausrufer, der auf seine Trommel schlägt, bis die Leute aus den Häusern kommen. Als Johann Breyer 17 Jahre ist, erhält er – so ist zumindest seine Version der Ereignisse – einen Brief, in dem ihn die deutsche Wehrmacht zur Musterung auffordert. Seine Mutter regt sich furchtbar auf, ihr Sohn ist doch noch gar nicht erwachsen. Die Familie fragt den Bürgermeister, was zu tun sei. Der sagt, wenn Johann nicht ginge, würde er wohl von der Militärpolizei oder der Gestapo mitgenommen. Die Deutschen hätten kurz zuvor einfach eines der beiden Pferde der Familie beschlagnahmt, sagt Breyer später.

Undatiertes Foto von Johann Breyer
Undatiertes Foto von Johann Breyer

© U.S. Foreign Service/laif

Der 17-Jährige meldet sich und lässt seine Tauglichkeit untersuchen. Als der Einberufungsbescheid kommt, ist die Familie erleichtert: Weil er der einzige Sohn ist, wird er nicht an die Front geschickt. Am 10. Februar 1943 werden 302 Volksdeutsche aus der Slowakei zur Waffen-SS eingezogen. Von seinen Eltern verabschieden kann sich Breyer nicht mehr. Er wird direkt ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht.

"Nichts mit Politik zu tun" - aber man war in einer antisemitischen Partei

Diese Version der Ereignisse wird Breyer fast fünf Jahrzehnte später US-Ermittlern erzählen. Aber war es wirklich so? Die Nachforschungen von Ermittlern aus Deutschland und den USA ergeben ein anderes Bild. Tatsächlich wurden alle volksdeutschen Männer in der Slowakei zwischen 17 und 35 Jahren aufgefordert, sich zur Waffen-SS zu melden – freiwillig. Breyer wird später betonen, er und seine Eltern seien davon ausgegangen, dass er eingezogen wurde, dass es keine Freiwilligkeit gab.

Die Aufforderung, sich zur Waffen-SS zu melden, kam von Franz Karmasin, „Volksgruppenführer“ der deutschen Minderheit und Chef der nationalsozialistischen „Deutschen Partei“ in der Slowakei. Breyer sagt später aus, seine Familie habe mit Politik nichts zu tun haben wollen. Aber die Ermittler entdecken in slowakischen Akten, dass Breyers Eltern und seine ältere Schwester Mitglieder der „Deutschen Partei“ waren. Diese war alles andere als eine deutschtümelnde Interessenvertretung: Karmasin verkündete bereits 1940, dass die deutschen Gemeinden in der Slowakei „von der Judenplage befreit werden“ müssten.

Andere junge Männer in der Slowakei verstehen sehr wohl, dass die Rekrutierung freiwillig ist: „Die meisten slowakischen Volksdeutschen ignorierten diesen Anwerbeversuch, ohne dass es Konsequenzen gehabt hätte“, lautet die Bilanz der US-Justiz. 17-Jährige wie Breyer konnten zu dem Zeitpunkt gar nicht zum Dienst an der Waffe gezwungen werden.

Wache schieben am Rande des KZ Buchenwald

Im Konzentrationslager Buchenwald erhält Breyer eine Uniform, am Kragenaufschlag und an der Mütze trägt er von nun an einen Totenkopf, das Abzeichen der Totenkopfverbände, die in der Waffen-SS aufgegangen sind und deren Hauptaufgabe die Bewachung der Konzentrationslager ist. In einer mehrwöchigen Grundausbildung lernt Breyer den Umgang mit einem Gewehr. Dann leistet er einen Diensteid. Die Offiziere erzählen den jungen Wachleuten, dass in Buchenwald Räuber und Mörder eingesperrt seien, die nicht frei heraumlaufen dürften und von denen sie sich fernhalten sollten. Er selbst berichtet später, er habe meist Dienst in der äußeren Postenkette rund um das Lager gehabt. Die Wachmänner stehen bis zu zwölf Stunden lang im Wald, dürfen nur zwei Meter zur einen und zwei Meter zur anderen Seite gehen und sich nicht hinsetzen, damit sie nicht einschlafen. Mühsam halten sie sich wach. „Das waren harte Zeiten“, sagt Breyer im Rückblick. Wie wenig er auch Jahrzehnte später, als er längst in den USA lebt, das Leid der Häftlinge an sich heranlassen oder auch nur verstehen kann, zeigt ein anderer Satz: Er hätte gern mit den Häftlingen getauscht, weil die nicht zwölf Stunden lang stehen mussten und ein Dach über dem Kopf hatten.

Ein Schriftstück vom Januar 1945 zeigt, dass Breyer dem 3. SS-Totenkopf-Sturmbann in Auschwitz 2 angehörte, also im Vernichtungslager Birkenau.
Ein Schriftstück vom Januar 1945 zeigt, dass Breyer dem 3. SS-Totenkopf-Sturmbann in Auschwitz 2 angehörte, also im Vernichtungslager Birkenau.

© AP

Die Wachmänner haben regelmäßig Ausgang, manchmal gehen sie ins nächste Dorf. Breyer, der das verdiente Geld nach Hause schickt, nimmt zwei Wochen Urlaub und fährt zu seinen Eltern.

Seinen Dienst findet er schlimmer als die Lage der Häftlinge

Auf Fragen der US-Justiz wird er später sagen, er habe nicht gewusst, was im Lager passiere. Nur ganz selten, zum Beispiel beim Haareschneiden, habe er mit einem Gefangenen geredet. Dafür weiß er lange nach Kriegsende noch gut Bescheid über die farblichen Kennzeichen der Häftlinge: rot für die politischen Gefangenen, grün für die Kriminellen, und „so eine Art Stern“ für die Juden.

Eines Tages kommt ein Telegramm von zu Hause. Die Mutter ist schwer krank, ein Arzt bestätigt das. Breyer bittet um ein paar Tage Urlaub. Doch der zuständige Offizier glaubt ihm nicht, nimmt an, Breyer habe den Arzt bestochen, das zu schreiben, um sich vor dem Dienst zu drücken. Der Antrag ist abgelehnt. Breyer schreibt nach Hause, dass er nicht kommen kann, und schimpft in dem Brief auf die Offiziere. Das Schreiben wird abgefangen. Die Lagerleitung denkt, er wolle desertieren, weil in dem Brief auch steht, er werde heimkommen, so oder so. Am nächsten Tag wird Breyer strafversetzt. Nach Auschwitz.

Dort findet Breyer es furchtbar – aber nicht etwa, weil Juden aus ganz Europa in den Gaskammern einen entsetzlichen Tod sterben. Die Bedingungen für die Wachleute seien schlechter als in Buchenwald, klagt er. Sie sind in Holzbaracken statt in Häusern untergebracht, müssen noch längere Wachdienste schieben, Ausgang gibt es nicht, ein Besuch im Dorf ist verboten. „Wir wurden fast verrückt an diesem Ort.“

In Befragungen wird Breyer später wortkarg, wenn er über Auschwitz reden soll. Vieles bleibt ungesagt, anderes ist widersprüchlich. So behauptet Breyer, zwar Wachmann in Auschwitz gewesen zu sein, aber nicht in Auschwitz-Birkenau, dem Vernichtungslager. Seine Haupttätigkeit sei wieder die Außenbewachung des Lagers gewesen, betont Breyer. Manchmal habe er Häftlinge bei einem Arbeitseinsatz bewacht, wenn sie Häuser für die deutschen Offiziere bauen mussten.

Er sieht die Viehwaggons, die Krematorien - aber angeblich keine Toten

Dabei gibt es mehrere Dokumente, die Breyer als Angehörigen einer Einheit identifizieren, die in Auschwitz-Birkenau eingesetzt wurde. Im Januar 1945 beantragt er mehr Geld, um seine Angehörigen zu unterstützen. Die Eltern sind bereits alt und krank und können den Hof nicht mehr allein bewirtschaften. Sie müssen Tagelöhner bezahlen. In dem Dokument (siehe Bild oben), mit dem der Unterhalt bewilligt wird, steht, dass Breyer zum 3. SS-Totenkopf-Sturmbann Auschwitz 2 gehört. Auschwitz 2 – das ist das Vernichtungslager Birkenau. Und die genannte Einheit war dort nachweislich eingesetzt.

Breyer weiß nach eigenem Bekunden, dass Menschen in Viehwaggons ankommen, er sieht den Rauch, der aus den Krematorien aufsteigt – doch vom Massenmord in den Gaskammern will er nichts gewusst haben. Überhaupt erinnert er sich später an fast nichts: nicht an Fluchtversuche, nicht an das Schreien und Weinen von Häftlingen, nicht einmal an den Aufstand in Auschwitz-Birkenau im Oktober 1944. Dass jemand getötet wurde, will er nie gesehen haben. „Ich bin nicht so nah rangegangen.“ Erst zehn Jahre nach seinem Dienst in Auschwitz, da lebt er längst in den USA, will er erfahren haben, was wirklich in dem Lager geschah. Er hätte vorher nicht glauben können, dass so etwas passieren könnte. „Vielleicht nennen Sie mich naiv oder dumm oder blöd, aber ich bin in diesem kleinen Dorf aufgewachsen, und ich war einfach nicht vorbereitet auf die große weite Welt.“

Doch die deutsche Justiz wirft ihm nun vor, als Wachmann in Auschwitz-Birkenau beim Massenmord geholfen zu haben. Die Staatsanwälte im bayerischen Weiden, die im Sommer 2013 den Haftbefehl ausgestellt haben, glauben nicht, dass Breyer nur in der äußeren Postenkette des Lagers Dienst tat. Denn auch in Auschwitz wurden Wachleute mit wechselnden Aufgaben betraut und in allen Bereichen eingesetzt, besonders wenn wieder ein Transportzug ankam. Die Wachleute umstellten die Rampe, wenn sich die Türen der Viehwaggons öffneten, und sie begleiteten die Menschen, die ermordet werden sollten, bis zu den Gaskammern. Dass in Auschwitz-Birkenau unfassbar viele Menschen systematisch getötet wurden, konnte auch dem jungen Wachmann Johann Breyer kaum verborgen bleiben: Da waren die vielen überfüllten Züge, die leer wieder wegfuhren. Der Rauch aus den Krematorien, den man nicht nur sehen, sondern auch riechen konnte. Und schließlich die Berichte der anderen Wachleute.

Zurück nach Auschwitz - angeblich aus Angst

Er hätte um Versetzung bitten können, werden US-Ermittler ihm später sagen. Notfalls um Versetzung an die Front. Breyer sagt, das habe er nicht machen können, den Eltern zuliebe, die um sein Leben fürchteten. Der junge Wachmann tut, was von ihm verlangt wird. Ende 1944 wird er zum Oberschützen befördert. Er beantragt Urlaub und fährt nach eigenen Angaben im Januar 1945 nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt rückt die Rote Armee immer weiter vor, Mitte Januar wird das Lager geräumt, die letzten überlebenden Häftlinge werden auf die „Todesmärsche“ geschickt.

„Ich kam nach Hause. Mutter sagte: Das war’s. Du wirst nicht zurückgehen.“ Breyer versteckt sich drei Monate lang auf dem elterlichen Hof. Zur Sicherheit schläft er nicht im Haus, sondern in der Scheune. Auch hier kommt die Front immer näher. Eines Tages trommelt der Ausrufer wieder die Dorfbewohner zusammen. Alle sollen die Pferde anspannen und sich vor dem Dorf versammeln. Gemeinsam mit den Nachbarn fliehen Breyers Eltern vor der Roten Armee. Breyer kommt nicht mit, er fürchtet, unterwegs als Deserteur festgenommen zu werden. Deshalb macht er sich auf den Rückweg nach Auschwitz. Erst im Zug erfährt er, dass „die Russen schon dort“ seien. In Luckenwalde wird er in eine Wehrmachtseinheit gesteckt, er soll vor Berlin gegen die Rote Armee kämpfen. Nun muss er doch noch an die Front, wenige Wochen vor Kriegsende. Später erinnert er sich an albtraumartige Szenen, an Panzer, an eine Explosion, an Mantel und Hose, die plötzlich brennen. Und an Tote, viele Tote.

Sein erster Chef in den USA ist Jude

Am 3. Mai 1945 gerät Breyer in sowjetische Kriegsgefangenschaft, kommt aber anders als viele andere im September wieder frei. Über die Tschechoslowakei und Österreich gelangt er schließlich nach Bayern. Hier, in der Oberpfalz, endete die Flucht seiner Eltern. Der Vater hilft den örtlichen Bauern, weil er noch ein Pferd hat. Als Breyer plötzlich bei den Eltern vor der Tür steht, wird die Mutter ohnmächtig. Der Sohn bleibt und macht eine Schlosserlehre. In der Evangelischen Jugend lernt er seine spätere Frau kennen. Weil er auf dem Land keine Arbeit findet, entschließt er sich, sein Glück in den USA zu suchen.

Den US-Behörden verschweigt Breyer, dass er in Buchenwald und in Auschwitz war. Sonst hätte man ihn nicht ins Land gelassen. Im Mai 1952 geht er in Bremerhaven auf ein Schiff. Englisch kann er nicht, als er in den USA ankommt. Seinen ersten Job als Werkzeugmacher bekommt er in einer Firma, deren Besitzer Jude ist. Das ist Breyers Glück: Er spricht Deutsch, der Chef Jiddisch, so können sie sich verständigen.

Breyer lebt nun seinen amerikanischen Traum. „Hier sah ich die Möglichkeit, etwas zu werden, ich arbeitete Tag und Nacht.“ Sein persönlicher Rekord sind mehr als 100 Stunden in der Woche. Er heiratet, wird Vater von drei Kindern, kauft ein Reihenhaus in Philadelphia. Im Jahr 1957 erhält er die US-Staatsbürgerschaft.

"Ich war ein Opfer der Deutschen wie viele andere"

Erst 34 Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein. Ermittler des Office of Special Investigations, einer auf das Aufspüren von NS-Verbrechern spezialisierten Abteilung im US-Justizministerium, finden heraus, dass Johann Breyer, der sich nun John nennt, bei der Einreise gelogen hat. Er wird zur Befragung gebeten und muss unter Eid aussagen. Wahrscheinlich geht er mit einem mulmigen Gefühl zum Gespräch. „Das sind schlimme Erinnerungen. Ich habe versucht, diese Dinge zu vergessen.“ Außerdem will er nicht, dass seine Kinder und Enkel denken, er sei ein Kriegsverbrecher. Er habe doch niemandem etwas getan. „Ich war genauso unschuldig wie die Menschen drinnen (im Lager).“ Nach diesem Satz erinnert ihn der US-Ermittler daran, dass Millionen Menschen ermordet wurden. Doch Breyer reagiert mit erschreckender Selbstgerechtigkeit – und redet nur von seinem Schicksal, dem langen Wachdienst und dem Hof, den er zurücklassen musste. Von Mitleid mit den Ermordeten oder gar von Reue kein Wort. „Ich war ein Opfer der Deutschen wie viele andere.“

Zwischen Mai und Oktober 1944 kamen 158 Züge in Auschwitz an, aus Ungarn, Berlin und Theresienstadt. Der Vorwurf der Staatsanwälte in Weiden: Beim Massenmord an den Juden, die in diesen Zügen waren, half auch Johann Breyer. Möglicherweise wird sich der 89-Jährige dafür vor einem deutschen Gericht verantworten müssen.

Warum die deutsche Justiz erst jetzt gegen die früheren Wachleute von Auschwitz ermittelt, lesen Sie hier.

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