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Dem US-Geheimdienst NSA ging es im aktuellen Fall nicht um Terrorabwehr, sondern Wirtschaftsinformationen.

© Gary Cameron/Reuters

Update

NSA-Skandal: US-Botschafter zu Gespräch im Kanzleramt "eingeladen"

Nicht nur Kanzlerin Angela Merkel, auch Minister ihrer Regierung wurden von der NSA abgehört. Das geht aus neuen Wikileaks-Unterlagen hervor. Kanzleramtschef Peter Altmaier hat daher den US-Botschafter John B. Emerson zu einem Gespräch "eingeladen".

Der US-Geheimdienst NSA hat nach Informationen der Enthüllungsplattform Wikileaks nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), sondern auch weite Teile der Bundesregierung ausgespäht. Wikileaks teilte am Mittwoch mit, dass die NSA 69 Telefonnummern der Bundesregierung ausgespäht habe. Die Spionage sei teilweise gemeinsam mit Großbritannien erfolgt, bestimmte Ergebnisse seien an die "Five Eyes" weitergeleitet worden, zu denen auch Australien, Kanada und Neuseeland zählen. Aus diesem Grund hat Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) den US-Botschafter John B. Emerson "eingeladen". Regierungskreise bestätigten einen entsprechenden Bericht der "FAZ".

Liste stammt aus den Jahren 2010 bis 2012

Unter den Spionagezielen waren laut Wikileaks die Bundesministerien für Wirtschaft, Finanzen und Landwirtschaft. Bei einem aufgezeichneten Telefonat Merkels ging es um die Einführung der Finanztransaktionssteuer und die Ansicht der Kanzlerin, in dieser Sache müsse Druck auf die Regierungen in Washington und London ausgeübt werden. In einem anderen Telefonat habe die Kanzlerin ihre Ansichten über eine Überwindung der griechischen Finanzkrise und ihre Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) dargelegt. Die Enthüllungen lagen vorab der "Süddeutschen Zeitung", NDR und WDR sowie französischen Medien wie der "Libération" vor. Sowohl der Berliner Telefonanschluss des Bundeswirtschaftsministers als auch der Anschluss seines Büroleiters stünden auf einer NSA-Überwachungsliste, heißt es in dem "SZ"-Bericht vom Donnerstag über die jüngsten Enthüllungen. Die Liste stamme offenbar aus der Zeit von 2010 bis 2012.

Informationen stammen wohl nicht von Snowden

Die NSA habe sich vor allem für die deutsche Währungs- und Handelspolitik interessiert. Auch die aktuellen Nummern mehrerer Staatssekretäre des Bundesfinanzministeriums fänden sich auf der Liste, hieß es in dem Bericht. Aufgeführt sei zudem die Europäische Zentralbank (EZB). Wikileaks-Sprecher Julian Assange erklärte zu den jüngsten Enthüllungen, sie zeigten, dass sich die US-Wirtschaftsspionage auf Deutschland und auf führende europäische Institutionen wie die EZB sowie auf die Griechenland-Krise erstrecke. Zugleich werde belegt, wie Großbritannien den USA "behilflich" sei, zentrale Bereiche der europäischen Politik auszuspähen.
In der vergangenen Woche hatte Wikileaks Unterlagen über NSA-Lauschangriffe auf drei französische Staatspräsidenten veröffentlicht. Diese Dokumente stammten, wie auch die Deutschland betreffenden Unterlagen, offenkundig nicht von dem früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden, sondern von einer anderen, bislang nicht identifizierten NSA-Quelle, heißt es in dem "SZ"-Bericht.

Werden Ermittlungen wegen Ausspähen von Merkel wieder aufgenommen?

Die Bundesregierung erklärte laut "SZ" auf Anfrage hinsichtlich der jüngsten Wikileaks-Informationen, der Sachverhalt sei ihr nicht bekannt. Ein Regierungssprecher fügte hinzu: "Ohne nähere Kenntnis des zugrunde liegenden Sachverhalts ist der Bundesregierung eine Bewertung derzeit nicht möglich."

Die Pariser Zeitung "Libération" wies darauf hin, dass die Bundesanwaltschaft im Juni die Ermittlungen wegen eines mutmaßlichen US-Lauschangriffs auf das Mobiltelefon der Kanzlerin eingestellt habe, weil sich dieser nicht gerichtsfest beweisen lasse. "Die Karten müssen nun neu gemischt werden", setzte die "Libération" hinzu. Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz erklärte, die Wikileaks-Enthüllungen entblößten "einen rechtsstaatlich komplett aus dem Ruder gelaufenen Apparat" in den USA, der ein "uferloses System der Überwachung" aufgebaut habe. Auf deutscher Seite zeige sich, dass die Fach- und Rechtsaufsicht "absolut unzureichend und schlampig" gewesen sei.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel äußerte sich gelassen. "Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu", sagte der SPD-Chef im ARD-"Morgenmagazin". "Wir machen nichts in Ministerien per Telefon, was man abhören müsste." Viel brisanter sei die Frage, ob die NSA auch die deutsche Wirtschaft ausgespäht habe. "Mein Ministerium ist mit zuständig dafür, Unternehmen zu schützen vor Wirtschaftsspionage, und das finde ich das problematischere Thema."

Linkspartei fordert Stopp der TTIP-Verhandlungen

Der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, sagte dem Tagesspiegel: "Die NSA hat jahrelang die Bundesregierung abgehört und sich dabei besonders für die deutsche Wirtschafts- und Handelspolitik interessiert. Sigmar Gabriel sieht das gelassen und bekundete, dazu ,ein ironisches Verhältnis' zu haben." Die Minister, deren Telefone gezielt abgehört wurden, dürften diese Gleichgültigkeit weniger gelassen sehen, sagte Riexinger. "Spätestens jetzt müssen die Verhandlungen mit den USA um das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen TTIP gestoppt werden. Die EU macht sich zur Gespielin der USA, wenn sie weiter über die Absenkung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Standards verhandelt, nachdem der US-Geheimdienst seit Jahren massive Wirtschaftsspionage und die Bespitzelung der Bundesregierung betreibt", erklärte der Linken-Chef.

NSA-Ausschuss fordert Konsequenzen

Auch die Abgeordneten im NSA-Untersuchungsausschuss fordern Konsequenzen aus den neuen Enthüllungen. Mehrere Abgeordnete verlangten Aufklärung von der Regierung. Noch im Laufe des Tages sollte ein Vertreter des Kanzleramts dem Gremium über den Stand der Erkenntnisse berichten. Der Grünen-Obmann Konstantin von Notz mahnte, der Generalbundesanwalt müsse Ermittlungen einleiten. Die Linke-Obfrau Martina Renner forderte, die Regierung müsse sofort wichtige NSA-Unterlagen offenlegen und dürfe nicht länger auf ein Einverständnis der USA warten. Das Konsultationsverfahren mit der US-Seite dazu müsse sofort eingestellt werden. SPD-Obmann Flisek mahnte: "Da gibt es kein Wegducken mehr. Frau Merkel ist gefordert." Die Kanzlerin müsse in einen intensiven Dialog mit den USA eintreten.

Streit um Kurt Graulich als "Vertrauensperson"

Gegen den Willen der Opposition benannte der Ausschuss den früheren Bundesverwaltungsrichter Kurt Graulich als "Vertrauensperson", um die US-Spionagelisten zu sichten, die seit Wochen für heftigen Streit zwischen Regierung und Parlament sorgen. Die Opposition kritisierte das Verfahren. Linke und Grüne pochen darauf, die Listen mit den kritischen Suchmerkmalen selbst einzusehen, was die Bundesregierung jedoch verweigert. Die beiden Fraktionen wollen ihren Willen nun mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen. (AFP/dpa/Tsp)

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