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OB-Wahl in Stuttgart: Reklame in eigener Sache

Er war einer der erfolgreichsten Werber in Deutschland. Nun will Sebastian Turner Oberbürgermeister von Stuttgart werden. In einer Stadt, die keine großen Sorgen hat, ringt er um sein politisches Profil.

Der Kandidat kommt zu Fuß. Dann bindet er sich eine Schürze um. Die Cafeteria im Erdgeschoss des Luise- Schleppe-Hauses, eines Altenheims in Stuttgart-Stammheim, ist an diesem trüben Mittwochnachmittag schon gut besucht. Mit Rollatoren und in Rollstühlen kommen weitere Heimbewohner über den Linoleumboden hergefahren. Der Kandidat läuft an einen der Tische, die mit frischen Blumen geschmückt sind. „Zwei Mal Cappuccino, jawoll,“ sagt er laut. „Und Himbeerkuchen? Jawoll.“

Die Dame, die bestellt hatte, lehnt sich zur Nachbarin: „Des isch ein netter Mann.“

Der Mann heißt Sebastian Turner, ist 46 Jahre alt, erst kürzlich Vater von Zwillingen geworden, und nun will er Oberbürgermeister werden, „ein dienender Bürger sein“, wie er sagt. Er bringt den Himbeerkuchen, stellt ihn ab. „Darf ich Ihnen noch eine Zeitschrift dalassen?“

„Au ja, gern“, sagt die alte Dame. „Kommt der Kaffee glei?“

„Ja, ja, auf dem Weg.“ Er wendet sich der Nachbarin zu. „Darf ich Ihnen auch eine Zeitschrift geben?“, fragt er in geschliffenem Hochdeutsch, sie schaut ihn länger an. „Noi.“

Er legt die Zeitschrift vor sie hin. Die hat Turner extra mitgebracht. Außerdem einen Karton mit Flyern, die für ihn werben. In allem, was mit Werbung zu tun hat, war Turner schon immer gut. Er zählt zu den berühmtesten Werbemenschen des Landes, war Erfinder ausgerechnet des Baden-Württemberg- Slogans „Wir können alles außer Hochdeutsch“ und unlängst noch Miteigentümer und Chef der renommierten Berliner Agentur Scholz & Friends mit fast 1000 Mitarbeitern. Aber nun geht er, mittelgroße Statur, weit geschnittener, grauer Anzug, randlose Brille, blondes, schütteres Haar, zur Anrichte zurück und lädt sich einen Teller und eine Tasse auf Handfläche und Unterarm. Geht dann sehr langsam und hochkonzentriert los. Sagt seinem Assistenten auf dem Weg: „Gehen Sie doch mal zu dem Mann da drüben mit einer Zeitung, bitte.“

Eine Stunde hat sich Turner Zeit genommen in der heißen Phase des Wahlkampfs, der an diesem Wochenende zu Ende geht. Diese Stunde ist bald vorüber, und mit Politik hat sie scheinbar nichts zu tun. So setzt sich Turner noch an einen Tisch mit vier Damen. Fragt eine, wo sie her ist. Eine Frage, die ihn interessiert, weil er zwar seine Jugend in Stuttgart verbracht hat, aber dann lange woanders lebte.

„Wir sind alle Schwaben, ich bin aus Crailsheim.“

Wie schön, sagt Turner.

„Ich komme aus Stuttgart direkt“, sagt eine andere Dame.

Ach, toll.

Die Dame aus Crailsheim sagt wieder: „Ich bin ja aus Crailsheim.“

Schön, sagt Turner. So direkt aus der Stadt?

„Ja“, sagt sie. „Mit meiner Tochter“.

Ist ja toll, sagt Turner. Prima, sagt er dann etwas schneller und lauter und nickt. So gaanz langsam muss ich dann mal wieder. Darf ich Ihnen noch was zum Lesen da lassen?

Die Dame aus Crailsheim lächelt. „Heute war ein Ehrentag.“

Er fährt U-Bahn, denn er will unter Leuten sein

Draußen hat es begonnen zu regnen. Turner wirkt dennoch erleichtert, als er aus der Tür tritt. Sein Assistent nimmt das Auto, er selbst geht wieder zu Fuß zur U-Bahn und zum nächsten Termin. Er will so unter den Leuten sein. Obwohl Turner auf dem Weg auch ständig sich selbst begegnet. Lauthals lachend auf einem Plakat. Auf dem nächsten wird er von einem Kind in die Backe gezwickt. Lächelnd inmitten einer Gruppe von Senioren. Stehend in einer Bäckerei und mit dem Gesellen arbeitend. Er, der noch keinen Namen hat als Volksvertreter, umgeben von Menschen, die so sind wie er. Aber sind sie das wirklich?

„Diese Stadt als Gesamtorganismus zu sehen und zu verstehen, das reizt mich“, sagt Sebastian Turner. Das klingt, als würde ein intelligenter Mann seine Entdeckerfreude befriedigen. Obwohl das plötzliche Dasein als Politiker ihm noch etwas unwirklich vorkommt, ist es dieser analytische Blick aufs Ganze, der ihn von seinen Mitmenschen abhebt. Er streitet nicht für Interessen. Trotzdem ist er bei der Wahl am Sonntag einer der Favoriten für das Amt. Zwar parteilos, aber trotzdem der, den die bürgerlichen Parteien CDU, FDP und Freie Wähler ins Rennen schicken.

Nun gähnt er kurz. Seine Tage sind lang. 18 Stunden Termin auf Termin. Noch dazu liegt die Geburt der Zwillinge nur drei Wochen zurück. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir dieser Wahlkampf so viel Spaß machen würde“, sagt er. Große Werbekampagnen hat er oft begleitet. Aber nun selbst im Mittelpunkt einer solchen zu stehen, das mal zu erleben, dafür gebe es nicht viele Chancen im Leben. In der Wirtschaft habe man doch eher einen relativ eingeschränkten Horizont.

In der letzten Umfrage vor einer Woche lag Turner nur wenige Prozentpunkte hinter Fritz Kuhn, dem ungleich prominenteren OB-Kandidaten der Grünen. „Klar ist Kuhn mit seinem Namen als Zugpferd der Topfavorit“, sagt Turner, „aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich gewinne, ist trotzdem nicht ganz gering.“ Turner lächelt dabei. Bettina Wilhelm von der SPD, eine bodenständige Person, derzeit noch Verwaltungsbürgermeisterin der Kleinstadt Schwäbisch Hall, hat er in den Umfragen bereits hinter sich gelassen. Es geht auch darum, ob ihre Wähler sich in einer Stichwahl für ihn entscheiden würden.

Als am 9. Januar dieses Jahres Oberbürgermeister Wolfgang Schuster verkündete, dass er nach seiner zweiten Legislaturperiode und 16 Jahren im Amt nicht erneut antreten wolle, war nicht mal zu erahnen, dass als Nachfolger auch Turner infrage kommen würde. Stefan Kaufmann, Vorsitzender der CDU Stuttgart und Bundestagsabgeordneter, rief Turner an, den er schon lange kannte. Sie redeten ein wenig über Schusters Rückzug und die anstehende Wahl. Dann sagte Kaufmann, dass er sich ihn, Turner, als OB-Kandidaten vorstelle.

Der überlegte. Er war nach dem Verkauf seiner Anteile bei Scholz & Friends mehr oder weniger zum Berliner Privatier mit sehr guter materieller Absicherung geworden. Zwei Tage überlegte er. Dann sagte er zu. Er wollte einen zweiten Lebensabschnitt beginnen. In der Politik. Am 17. März kam es in der Stuttgarter CDU zur internen Abstimmung zwischen ihm und Andreas Renner, einem altbekannten Landespolitiker. Turner gewann. Mit deutlicher Zweidrittelmehrheit, eine Sensation, die wenige erwartet hatten. Weil viele ihn für farblos hielten. Turner folgte mit diesem Schritt auch der Spur seines Vaters, der unter Eberhard Diepgen in den 80er Jahren Berliner Wissenschaftssenator war.

Wer Turner junior in dieser frühen Nominierungsphase traf, begegnete einem Mann, der sagte: „In Stuttgart tut sich eine Konstellation auf, die für jemanden mit meinen Erfahrungen ideal ist.“ Er meinte das Desaster um den Neubau des Bahnhofs. „Die Wandlung“, fuhr Turner fort, „ist durch schlechte Kommunikation missglückt.“ Und Kommunikation, das kann er.

Sie bedeutet ja nie, das lehrt einen dieser Beruf, nur ein Image zu kreieren. In einem Gastbeitrag für die „Welt“ hatte er kurz zuvor geschrieben, dass der Wettbewerb der Städte ihre Bewohner zwinge, „darüber nachzudenken, was sie im Innersten zusammenhält. ... Sie brauchen eine Idee davon, was sie wollen.“

Das Image sollte zu einem Selbstbild werden. Man durfte das als Turners politische Agenda lesen.

So redet Turner heute nicht mehr, Wahlkampf geht anders. Wie gut es sei, sagt er über seine Motive, sich in Stuttgart für ein solches Amt zu bewerben. In einer Stadt, die eine der reichsten ist in Europa, in der laut einer aktuellen Umfrage die glücklichsten Menschen Deutschlands leben. Wo es außer einem hart umkämpften Bahnhof keine offensichtlichen Probleme gibt. Da müsse man schon genauer hinschauen, um die Probleme wirklich zu erkennen, sagt Turner. Und meint Probleme, die jetzt noch in der Ferne liegen.

Er wünscht sich Miteinander. Das Logo: Eine Brezel

An der U-Bahn-Haltestelle Botnang steigt er aus und blickt in einen schmucklosen Stadtteil. Viele Hochhaussiedlungen aus den Wirtschaftswunderjahren. Ein Kilometer Fußweg liegt vor ihm bis zu dem Vereinsheim der ASV Sportgruppe Botnang. Früher pendelte er als Agenturchef zwischen London, Barcelona, Rom und Moskau hin und her. „Das hat schon auch was hier“, sagt er verschmitzt. In der Eugen-Marquardt-Stube, dem Hinterzimmer des Vereinslokals, sitzen 50 Besucher. Die Sportgruppe.

Die Leiterin, eine resolute Frau, hat das Treffen arrangiert. Nun übernimmt sie die Moderation. Zur Einstimmung sagt sie, dass sie ihr Leben lang gewählt habe. Und immer nach Kompetenz. Deswegen habe sie Turner eingeladen. „Bitte Herr Turner. Sie sind dran.“

Turner steht auf. Stellt sich vor die Zuhörer, wie meist etwas linkisch und mit wenig Körperspannung. Keiner eigentlich, dem man den großen Auftritt zutraut. „Viele von Ihnen kommen ja vom Turnen“, sagt er jetzt zu seinem Publikum, dessen Altersspanne von Mitte 50 bis 80 reicht, „da fühle ich mich als Turner ja gleich gut aufgehoben.“ Einige Lacher. Immer gut, so zu beginnen.

Dann hält er einen kurzen Vortrag, der im Wesentlichen deckungsgleich ist mit dem, den er bei einem Unternehmerfrühstück in der City oder bei der Bürgervereinigung gehalten hat. „Eigentlich hätte doch ganz Europa gerne unsere Sorgen hier in Stuttgart.“ Natürlich, es gebe zu viel Stau und zu viel Feinstaub beispielsweise. Aber niemand hier sage doch, dass er Angst um sein Leben oder seine Existenz habe. „Ich könnte Ihnen jetzt sagen, alles ist schlecht. Wählt mich, und alles wird gut. Aber wir sind top bei Jobs, bei Einkommen und Kriminalität.“ Also er meine jetzt, dass die Kriminalität besonders niedrig sei. Seine großen Themen hießen Migration, Alterung und Nachbarschaft.

Das klingt zwar auch nicht nach Problemen, aber Turner demonstriert jetzt, was er versteht unter: genau hinschauen. 40 Prozent der Einwohner Stuttgarts seien Migranten. Und sogar 60 Prozent der Schüler. Ein älterer Herr schüttelt den Kopf: „Wahnsinn.“ Das müsse man angehen, sagt Turner. Zum Thema Alterung könne er nur sagen: „Dass die Gesellschaft überaltert ist, das ist doch Unsinn. Wir wollen doch alle älter werden. Sie machen ja sogar Sport, um fit zu bleiben!“ Man habe eben nur zu wenig Junge. Da müsse sich was tun. Und zum Thema Nachbarschaft wolle er sagen: „Die Stadt ist wie ein Gesamtorganismus. Aber sie lebt von ihren einzelnen Organen.“ Da ist Turner dann wieder bei seinem Lieblingsthema.

Er hat dafür ein Logo entworfen. Es kam ihm in der Bäckerei, in der er sich neben dem Gesellen fotografieren ließ. Es besteht aus einer Brezel, deren untere Hälfte aus zwei Händen besteht, die sich grüßen.

Eine halbe Stunde spricht Turner, doziert manchmal fast. Dann beantwortet er Fragen. Beim Hinausgehen schüttelt er jedem die Hand. Jedem Stuttgarter möchte er mindestens einmal die Hand gegeben haben. Brezelpolitik.

Ein Lokaljournalist fragt ihn danach, wie es lief. „Glaube, gut. Aber sie bekommen ja erst mal überall Zustimmung. Ob sie dann das Kreuz wirklich bei Ihnen machen, wissen Sie nicht.“

Am Abend treffen die drei Kontrahenten für eine Aufzeichnung beim Lokalsender Regio TV zusammen. Turner, Bettina Wilhelm und Fritz Kuhn müssen im Keller des Studios warten. Bei Brezeln, Kaffee und Saft. Fritz Kuhn nimmt eine Brezel, schaut sie an und sagt: „Brezeln ohne Butter, das ist Sozialismus.“ Turner lacht auf. Dann sagt er zu Bettina Wilhelm, die neben ihm im roten Kostüm Platz genommen hat: „Sie haben ja als Einzige mitgedacht, dass wir ins Farbfernsehen kommen.“ Als sie einen Kuli braucht für ihre Notizen, reicht ihr Turner einen, auf dem „Miteinander mit Turner“ steht. „Das muss Sie nicht stören“, sagt er.

Dann brechen sie auf ins Studiolicht und vor die Kameras. Turner voraus. Kuhn etwas hinter ihm. Auf dem Weg raunt Kuhn: „Haben Sie den Turner gesehen bei der Vorstellung der Kandidaten vor kurzem? Ist komplett durchgerasselt. Der kann ja nicht reden!“ Kuhn macht eine kurze Pause, lächelt. „Die politische Rede ist halt doch was anderes als so eine Doziererei in einem wissenschaftlichen Vortrag.“

Nach der Aufzeichnung sagt Turner: „Das ging doch ganz gut.“

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