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Ein Kreuz als Zeichen gegen den Missbrauch legten die Teilnehmer der Anhörung.

© promo

Öffentliche Anhörung zum Kindesmissbrauch: Auf Höllenfahrt

Es war die erste große öffentliche Anhörung zur Aufarbeitung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs - und sie fand im "Wohnzimmer der Republik" am Pariser Platz statt. Dabei wurde klar, wie enorm die Probleme sind, vor denen die Betroffenen noch immer stehen.

Sie wollten sich nicht in irgendeinem Tagungszentrum irgendwo in Berlin treffen. Für die erste große öffentliche Anhörung zur Aufarbeitung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs sollte es ein prominenter Ort sein. So haben der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung und die Betroffenenverbände die Akademie der Künste am Pariser Platz ausgewählt – das „Wohnzimmer der Republik“. Das Signal ist wichtig: Menschen, die als Kinder in Schulen, in Sportvereinen, von Priestern oder vom eigenen Vater gedemütigt, misshandelt und missbraucht wurden, werden nicht mehr an den Rand gedrängt. Die Räume der Akademie der Künste sind hell und von viel Glas umgeben. „Dass wir aus den dunklen Räumen unserer Seele in dieses Gebäude, in dieses Licht kommen können, ist ein starkes Stück“, sagte Mathias Bubel von der Initiative „Eckiger Tisch“, in der sich seit 2010 Betroffene versammeln, die an Jesuitenschulen sexuelle Gewalt erlebt haben.

Bubel fällt es bis heute schwer, über seine Erfahrungen zu sprechen. Bei der Anhörung am Dienstag setzte er immer wieder an, umkreiste das Thema. So geht es vielen Betroffenen. Hedda Feddersen, eine gestandene Frau Mitte 40, beruflich erfolgreich, erzählte unter Tränen, wie sie schon als kleines Mädchen mit drei Jahren in ihrer Familie missbraucht wurde. Wie sie das Erlittene abspaltete. Ärzte diagnostizierten schwere traumatische Belastungsstörungen, Feddersen stemmte sich immer wieder gegen Selbstmordgedanken, seit 23 Jahren macht sie Therapien – „alles selbst bezahlt“. Jetzt könne sie ganz gut leben, sagt sie. Doch als sie jetzt Entschädigung über das Opferentschädigungsgesetz beantragte, glaubte man ihr nicht. Zwei Tage soll sie sich nun einem Gutachter stellen, obwohl sie bereits ein Dutzend Gutachten und Diagnosen vorgelegt hat. „Ich werde weiterkämpfen“, sagte sie, „vielleicht werden die mich bewusstlos aus dem Raum tragen, aber ich werde denen nichts ersparen“.

„Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursache beseitigt wäre“, zitierte Moderator Matthias Katsch den Philosophen Theodor W. Adorno. Katsch musste am Canisius-Kolleg sexualisierte Gewalt erleben und ist heute Sprecher des „Eckigen Tischs“. Da die Ursache nicht beseitigt sei, bleibe der Bann bestehen, schrieb Adorno weiter. „Wir müssen diesen Bann brechen“, sagte Katsch, „wir müssen das Giftdepot des Missbrauchs trocken legen“. Katsch und viele andere Betroffene fordern seit drei Jahren eine Unabhängige Kommission, die die Fälle, in denen systematisch Übergriffe geschahen, aufklärt. Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, hat sich die Forderung jetzt zu eigen gemacht. „Die Aufarbeitung gehört ganz oben auf die politische Tagesordnung“, sagte er am Dienstag. „Nur wenn wir genau hinschauen, was war und ist, können wir Kinder und Jugendliche besser schützen.“ Konkret fordert er, dass die Bundesregierung Anfang nächsten Jahres eine Kommission beruft, die Institutionen übergreifend Missbrauch aufarbeitet. Auch der Tatort Familie und auch die sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Internet sollen untersucht werden.

Auf Rörigs Einladung kamen am Dienstag 250 Betroffene, Opferinitiativen und Wissenschaftler in die Akademie der Künste am Pariser Platz. Die Anhörung zeigte deutlich, wie schwer sich Institutionen wie Kirchen, Sportvereine, aber auch Schulen und andere kommunale Einrichtungen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit tun. Erst recht ist es für Betroffene schwierig, diesen Prozess anzustoßen. Nur wer über ein finanzielles Polster verfügt und emotional einigermaßen stabil ist, kann die Auseinandersetzung mit den Täterinstitutionen wagen.

Anselm Kohn, der zusammen mit seinen Geschwistern vom Stiefvater missbraucht wurde, einem evangelischen Pastor, erzählte von seiner „Höllenfahrt“ in den vergangenen drei Jahren. Zusammen mit anderen Opfern des Pastors erreichten die Kohn-Brüder mit sehr viel Ausdauer und Energie, dass die neu gegründete evangelische „Nordkirche“ eine Aufklärungskommission einsetzte. Bevor sich die neue Bischöfin das Thema zu eigen gemacht habe, seien sie in der evangelischen Kirche gegen Mauern gelaufen.

„Aufklärung kann nur von außen kommen“, sagte Jesuitenpater Klaus Mertes. „Nur von außen lässt sich die Black Box öffnen“. Denn Aufklärung führe innerhalb einer Institution zur Spaltung. Das tue sich eine Institution freiwillig kaum an. Mertes weiß, wovon er spricht. Vor drei Jahren hat er als erster Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht und wurde dafür innerhalb der katholischen Kirche mehr als einmal als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. „Eine unabhängige Untersuchungskommission wäre auch für Institutionen eine große Hilfe, um in der Aufklärung voran zu kommen“, sagt Mertes. Das vorzeitige Ende einer groß angelegten Aufklärungsstudie der katholischen Kirche und das Zerwürfnis mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer zeigte im Januar, wie schwer sich die Institutionen mit der Aufarbeitung tun.
Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik führte aus, dass es auch seiner Zunft gut täte, die Vergangenheit systematisch aufzuarbeiten. Die Verfehlungen an der Odenwaldschule stünden exemplarisch für eine Denkrichtung in der Erziehungswissenschaft, die Übergriffe auf Kinder in Kauf genommen oder gar als Befreiung gefeiert habe. Der Historiker Christian Sachse studiert seit Jahren Akten Jugendheime aus der DDR. Er wünscht sich eine Instanz, die ihn ermächtigt, die gewonnenen Erkenntnisse strafrechtlich nutzen zu können.
Wie sinnvoll es sein kann, wenn der Staat die Aufklärung in die Hand nimmt, zeigte sich in Irland. Dort hat eine beim Obersten Gerichtshof angesiedelte Untersuchungskommission zehn Jahre lang mit einem dutzend Anwälten Akten durchforscht, Interviews geführt und gesellschaftliche Hintergründe analysiert. „Als der Bericht 2009 veröffentlicht wurde, war das Land zutiefst schockiert“, sagte der Vorsitzende Richter Sean Ryan am Dienstag am Pariser Platz. Dass Kinder in irischen Kinderheimen, Schulen und Vereinen so systematisch, perfide und chronisch sexuell missbraucht wurden, hatte keiner geahnt. Der Regierungschef übernahm die Verantwortung für den Staat und entschuldigte sich bei den Opfern. Ein enorm wichtiger Schritt sei das gewesen. Er habe gesellschaftlich viel verändert.
Die deutsche Realität jenseits des Pariser Platzes sieht ernüchternd aus. Am Montag hatte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklärt, dass sie von einer Unabhängigen Untersuchungskommission nichts halte. Das passt ins Bild, das viele Betroffene von der Politik haben: Das Thema interessiert nicht wirklich, in den anderthalb Jahren seit dem Ende des Runden Tischs hat sich wenig getan, jetzt ist Wahlkampf und das Interesse erst recht woanders. Weder die Justizministerin noch die CDU-Bundesfamilienministerin, die den Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch getragen hatten, ließen sich bei der Anhörung am Dienstag blicken. Bundespräsident Gauck schickte ein Grußwort. Auch von den anderen Parteien kam keiner. Die Auftritte in den kommenden Tagen beim Kirchentag sind den Politikern wichtiger.
Dabei ist nach wie vor vieles unklar, was längst hätte auf den Weg gebracht werden können. Betroffene, die in Institutionen missbraucht wurden, wissen nach wie vor nicht, wie sie an Hilfsleistungen kommen können und wer zahlt. Eigentlich sollte jede Institution für die Opfer in ihrem Bereich aufkommen. Doch bislang sind die Kirchen und die Odenwaldschule die einzigen, die die Hilfen organisiert haben. Vor einigen Monaten fiel auf, dass gemeinnützige Organisationen steuerrechtlich gar nicht ohne weiteres Zahlungen für Hilfeleistungen an Einzelpersonen vornehmen dürfen. Warum fällt das erst jetzt auf? Nun gibt es Überlegungen, ob Länder, Kommunen, Kirchen und die anderen Träger von Jugendeinrichtungen pauschale Summen in einen Fonds einzahlen sollen.

Am 1. Mai startet aber auch endlich ein zweiter Fonds, der ebenfalls am Runden Tisch vor eineinhalb Jahren vollmundig angekündigt wurde: der Fonds für Menschen, denen in ihrer Familie Schlimmes angetan wurde. Der Bund stattet diesen Fonds mit 50 Millionen Euro aus, wie Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) stolz verkündete. Soll es also künftig zwei Fonds geben? Einen für die Opfer aus dem familiären Bereich und einen für die Opfer der Institutionen? Oder doch besser einen großen, gemeinsamen Fonds? Und was ist überhaupt mit den 50 Millionen Euro, die eigentlich die Länder noch zum Familien-Fonds beisteuern wollten? Außer Mecklenburg-Vorpommern und Bayern ist bislang kein Land dazu bereit. Die Verhandlungen seien noch nicht abgeschlossen, sagt ein Sprecher des Familienministeriums. Noch seien mehrere Modelle denkbar. Man warte auf Vorschläge der Länder. In den Ländern wartet man auf Vorschläge der Bundesfamilienministerin. Auf Referentenebene wird hektisch verhandelt. „Es wurde viel Zeit verschenkt“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Auch ob seine Stelle verlängert wird, ist nicht geklärt. Sie läuft mit dem Ende der Legislaturperiode aus, spätestens am 31. Dezember. Ohne ihn, fürchten viele Betroffene, werde sich gar nichts mehr tun.

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