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Politik: ÖTV: Alles gleich ist nicht allen gerecht (Leitartikel)

In diesem Streik im Öffentlichen Dienst, wenn er denn kommt, geht es nicht einfach um Geld, sondern um Gerechtigkeit. Zumindest sagen uns das die beteiligten Gewerkschaften.

In diesem Streik im Öffentlichen Dienst, wenn er denn kommt, geht es nicht einfach um Geld, sondern um Gerechtigkeit. Zumindest sagen uns das die beteiligten Gewerkschaften. Im Westen müsse man mit der privaten Wirtschaft Schritt halten, sozusagen auf Augenhöhe bleiben, und im Osten endlich Anschluss an das Gehaltsgefüge im Westen gewinnen. Gerechtigkeit also. Als der Senat von Berlin im Mai 1994 beschloss, die Gehälter des Öffentlichen Dienstes im Ostteil der Stadt an jene im Westteil anzupassen, war ihm der Beifall der Betroffenen sicher - aber keinen Monat später war Berlin aus der Tarifgemeinschaft der Bundesländer ausgeschlossen. Eberhard Diepgen hatte mit der von ihm initiierten Gleichstellungsentscheidung dem Gerechtigkeitsgefühl in der Stadt Genüge getan, aber die Regeln der Solidargemeinschaft der Länder verletzt.

Das Thema Gerechtigkeit ist also ein altes Thema. Aber geht es darum wirklich? In Berlin, vor sechs Jahren, sicher, zumindest aus Berliner Sicht. Die "alten" Bundesländer sahen das anders, denn Diepgen hatte das Geld für diese Lohnerhöhung nicht in der Kasse, sondern verteilte Wohltaten auf Kosten anderer. Aus deren Sicht war das Berliner Vorgehen im höchsten Maße ungerecht. Darum geht es auch heute. Die Annahme des Schlichterspruches im Öffentlichen Dienst - den ÖTV und DAG als unzureichend ablehnten - würde beispielsweise das Land Brandenburg jährlich 25 Millionen Mark kosten. Das Steueraufkommen dieses Landes reicht aber gerade einmal, um 40 Prozent des Budgets zu finanzieren. Wenn die Gewerkschaften mit dem Tempo nicht zufrieden sind, in dem das Westniveau bei den Gehältern erreicht wird, bedeutet das also zusätzliche Umverteilung zu Lasten der alten Länder.

Das wird auch deren Öffentlicher Dienst durch Einsparungen zu spüren bekommen. So ist es zweifelhaft, ob die Gewerkschaftler bei der Urabstimmung für die schnellere Anhebung im Osten votieren. Um es ihnen leichter zu machen, wecken die Großen Tarifkommissionen auch im Westen Erwartungen. Mindestens eine zwei müsse vor dem Komma stehen, propagieren sie. Das ist kein sehr hohes Kampfziel. Für 2001 hatten die Schlichter ohnedies 2,2 Prozent vorgeschlagen, für das Jahr 2000 nur 1,8 Prozent. Ein Arbeitskampf für 0,2 Prozent? In allen anderen Industriezweigen, bei den Druckern, den Metallern, auf dem Bau, bei der Post und in der Chemiebranche hat man sich geräuschlos geeinigt. Ist der Öffentliche Dienst der Dinosaurier der Tarifpolitik, der letzte Sektor, dessen Gewerkschaften nicht begriffen haben, dass überhöhte Abschlüsse die Konjunktur abwürgen?

Es ist eben schwer, wenn man mit Begriffen, Werten wie dem der Gerechtigkeit operiert, wo es ganz banal um Verteilungsspielräume geht. Dann ist es auch nicht so leicht, den Regeln der Vernunft gehorchend nachzugeben. Man müsste dann nur registrieren, dass es die Ost-West-Differenz bei den Gehältern nicht nur im Öffentlichen Dienst gibt. In der Chemie macht der Unterschied 16 Prozent aus, bei den Metallern 19, im Hotelgewerbe 22 und auf dem Bau gar 30 Prozent. Und dann ist noch nicht davon geredet, dass in vielen Unternehmen im Osten Arbeitnehmer freiwillig auf Teile ihres Einkommens verzichten, damit Kolleginnen und Kollegen nicht entlassen werden müssen.

Natürlich drückt so etwas den Öffentlichen Dienst kaum. Entlassungen drohen ihm ja nicht. Für das Ansehen seiner Mitarbeiter wäre es dennoch besser, wenn sie sich ihrer gegenüber den Normalbürgern im Osten privilegierten Rolle bewusst - und bescheidener würden. Dann gäbe es auch mehr Gerechtigkeit.

Gerd Appenzeller

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