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© AFP

Politik: Ohne Ordnung kommt die Angst

Seit Jahren wird Pakistan als Land am Abgrund gesehen. Und existiert immer noch. Aber die Gesellschaft radikalisiert sich weiter

Manchmal hilft nur noch Zynismus. Najam Sethi hat sich in die weichen Couchpolster zurücksinken lassen, die Arme breit über der Rückenlehne ausgestreckt: „Ich stehle, ich bin korrupt, und ich vermeide es möglichst, Steuern zu zahlen“, sagt der Mann im Leinenanzug und grinst unter seinem sorgfältig gestutzten Schnauzbart. Der 64-Jährige ist einer der renommiertesten Journalisten Pakistans, er ist Gastgeber einer Talkshow bei „Geo TV“, dem erfolgreichsten Privatsender in der seit einigen Jahren geradezu explodierenden pakistanischen Medienszene, die von ihm herausgegebene „Friday Times“ genießt einen exzellenten Ruf. Jetzt macht sich Najam Sethi ernsthaft Sorgen um die Zukunft seines Landes, und schuld daran sind „wir Pakistaner selbst, zu hundert Prozent“.

Nun wird Pakistan seit Jahren regelmäßig am Abgrund oder vor dem Auseinanderbrechen gesehen und existiert trotz aller düsteren Prognosen immer noch. Und das im regionalen Vergleich nicht nur schlecht: In Indien, dem Erzfeind, leben prozentual mehr Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Bevor die globale Wirtschaftskrise Pakistan 2008 ökonomisch völlig aus der Bahn warf, wuchs die Wirtschaft ein knappes Jahrzehnt jährlich zwischen 6,6 und neun Prozent.

Doch der Reichtum und dessen Wohltaten sind höchst ungleich verteilt. Vor allem bei der Bildung ist das zu spüren: Fast die Hälfte der etwa 170 Millionen Pakistaner kann weder lesen noch schreiben, weil die staatlichen Schulen miserabel oder nicht vorhanden sind, die Investitionen in den Bildungssektor aber trotz gegenteiliger Versprechen diverser Regierungen gerade einmal an die zwei Prozent des staatlichen Budgets ausmachen – das ist ohnehin überschaubar. Denn die allergrößte Mehrheit der Pakistaner, allen voran die besonders gut verdienenden, zahlt keine Steuern. Oder keine Stromrechnung, was in einem Land, in dem in manchen Orten inzwischen mehr als den halben Tag kein Strom fließt, denjenigen ohne Dieselgenerator im Garten wie eine bittere Farce erscheinen muss.

In einer von Najam Sethis Shows werden Anrufer direkt ins Studio durchgestellt. „Könnt ihr bitte einfach eine Bombe auf uns werfen?“, hat ihn vor kurzem ein Mann live auf Sendung gefragt. Zwar weiß der Meister der Inszenierung, wie er seinen westlichen Besuch beeindrucken kann. Doch Najam Sethis Wut über Korruption und Vetternwirtschaft, die in Pakistan vielerorts als normal gelten, und seine Angst vor der Zukunft, wenn Terror und Kriminalität weiter wuchern, ist real. „Wir leben in einem politischen Chaos“, sagt er. „Langsam werden die Menschen wütend.“

Sein Leben lang hat Najam Sethi nicht davor zurückgescheut, sich mit den Mächtigen anzulegen. Dreimal ist er dafür ins Gefängnis gegangen: Unter Zulfikar Ali Bhutto, Benazir Bhuttos Vater, unter dem Militärdiktator Zia Ul-Haq und dem Premier Nawaz Sharif. Mit einer weit ausholenden Geste weist er jetzt auf die hohen Bücherregale und die modernen Gemälde an den Backsteinwänden seines Wohnzimmers – es geht ihm gut, materielle Sorgen kennt er nicht. Doch ob er in fünf Jahren noch in seinem Haus in Lahore leben wird, weiß er nicht: „Vielleicht herrscht auch völlige Anarchie, oder es gibt einen neuen Krieg mit Indien.“

Mit seinen Sorgen ist er nicht allein. Viele Pakistaner sind nach der Euphorie über den Rücktritt von General Pervez Musharraf vor drei Jahren ernüchtert. Jetzt herrscht zwar Demokratie, aber die Regierung verzettelt sich in Koalitionskrisen und Machtspielen, statt die überfälligen Reformen anzugehen. Doch wenn sie jetzt nicht kommen, fragen sich viele, wann dann? In den vergangenen zwei Jahren haben pakistanische Extremisten das Land außerdem mit einer beispiellosen Anschlagswelle überzogen, bei der Tausende von Menschen ermordet worden sind. Eltern erzählen von ihren Kindern, die statt mit Puppen mit Kalaschnikows spielen wollen, und deren Schule ständig wegen Terroralarm geschlossen bleibt.

Diese Ängste kennt John Alexander Malik auch, nur verbietet es sich für ihn schon von Berufs wegen, die Hoffnung aufzugeben. Seit 45 Jahren dient er der anglikanischen Kirche in Pakistan, seit 31 Jahren als Bischof in Lahore. Sein kleines Büro hat er direkt gegenüber der in sattem Rotbraun erstrahlenden Kathedrale der Auferstehung. Der massive neogotische Bau von 1887 liegt mitten in der Stadt, doch der Weg zum Bischof führt vorbei an hohen Zäunen, Stacheldraht und Überwachungskameras.

In Lahore, der Hauptstadt der Provinz Punjab, ist am 4. Januar der Gouverneur Salman Taseer von einem seiner Leibwächter erschossen worden. Weil der Gouverneur, ein Freund der Frauen und des Whisky, Pakistans Blasphemiegesetz ein „schwarzes Gesetz“ genannt hat. Das Todesurteil wegen Beleidigung des Propheten wird zwar kaum vollstreckt, dafür werden die Gesetze oft missbraucht, um jemanden anzuschwärzen.

Taseer hatte die zum Tode verurteilte Christin Asia Bibi im Gefängnis besucht und klargemacht, dass er von ihrer Unschuld und baldigen Freilassung ausgehe. Seinen Mörder überschütteten dann auf dem Weg zum Gericht Anwälte mit Rosenblättern. Im Parlament in Islamabad wagte niemand, das übliche Gebet für Taseer zu sprechen. Wie gefährlich allein der Gedanke an die Reform des Gesetzes ist, hat spätestens der 2. März gezeigt. An diesem Tag wurde Shahbaz Bhatti, der Minister für Minderheiten und einzige Christ im Kabinett, in Islamabad in seinem Wagen erschossen. Er hätte eine Kommission leiten sollen zur Überprüfung der Blasphemiegesetze.

Ja, sagt Bischof Malik, Pakistans Gesellschaft hat sich radikalisiert. Die Zäune und die Wächter um die Kathedrale gab es vor ein paar Jahren noch nicht. Die sonntäglichen Gottesdienstbesucher müssen sich am Kirchenportal durchsuchen lassen, manch einer bleibt aus Angst lieber ganz zu Hause. Dabei richtet sich die Gewalt gar nicht ausschließlich gegen Christen oder andere Minderheiten. Die meisten Opfer auch der religiösen Gewalt sind in Pakistan Muslime, immer wieder sprengen sich Selbstmörder in Moscheen oder vor Sufi-Schreinen in die Luft.

Die Wurzel dieses Übels liegt für den Bischof mehr als 30 Jahre zurück. Nachdem Armeechef Zia Ul-Haq gegen Zulfikar Ali Bhutto geputscht hatte, startete er sein Islamisierungsprogramm und ließ auch die Blasphemiegesetze verschärfen. Wohl aus Überzeugung, und weil er sich und seiner Politik die Unterstützung der Islamisten sichern wollte. Doch er war weder der erste noch der letzte Machthaber, der sein Handeln über die Religion zu legitimieren versuchte. Bhutto hatte bereits das Trinken von Alkohol für Muslime offiziell verboten – wobei er sich selbst nicht daran hielt. Der Hunde- und Whiskyfreund Pervez Musharraf verhalf Pakistans islamistischen Parteien zu einem vorher nie erreichten Wahlergebnis von elf Prozent, um sich deren Unterstützung zu sichern. Das doppelte Spiel hält bis heute an, auch ein Grund, weshalb viele Pakistaner von ihrer herrschenden Klasse wenig halten. Auch heute wird privat gerne und viel getrunken, am liebsten Hochprozentiges. Der Gouverneur Taseer war da keine Ausnahme, er hat nur gar nicht erst versucht, den Schein zu wahren.

In der Kathedrale hat sich inzwischen eine Gruppe Kinder zusammengefunden, Jungen in Jeans und T-Shirt, Mädchen in bunten Röcken und rosa Kleidern sitzen in den ersten vier Reihen des gewaltigen Kirchenschiffes und lauschen zusammen mit zwei Müttern einer jungen Frau. Es ist die Woche vor Ostern, die Kinder sollen für den Gottesdienst proben. Bevor sie in die Schule gehen, sagt der Bischof, schärfen wir ihnen ein: Redet nicht über eure Religion. Nicht, weil Christen generell drangsaliert würden – so werden christliche Schulen, Krankenhäuser, Universitäten wegen ihrer Qualität mehrheitlich von Muslimen besucht. Aber die Religion ist ein so hochexplosives Thema geworden, dass man schlicht nicht mehr darüber sprechen kann. Doch wie soll das gehen, in einer Gesellschaft, die so sehr von Glauben und Religion geprägt ist?

Der Bischof weiß es nicht. Er versteckt seinen Glauben nicht, das große silberne Kreuz trägt er immer sichtbar auf der Brust. Doch auch er hat Angst und wagt es nicht mehr, offen gegen die Blasphemiegesetze zu sprechen. „Ich bin so enttäuscht von einer Gesellschaft, die einen Mörder bejubelt“, sagt er. Er sinkt ein wenig hinter seinem Schreibtisch zusammen, auf einmal sieht man ihm die 67 Jahre an. Denn auch wenn er für sich die Entscheidung getroffen hat, „ich bin als Christ ein Teil dieses Landes“, so blickt er doch pessimistisch in dessen Zukunft. „Unsere Klügsten und Besten verlassen uns“, sagt er, wer kann, studiert und arbeitet im Ausland. Seine eigenen Kinder, sagt er, würden ihm Vorwürfe machen: Die ganze Familie ist vor Jahrzehnten nach Kanada ausgewandert. Doch anders als seine Brüder kam John Alexander Malik Anfang der 70er Jahre nach Pakistan zurück.

Seitdem hat das Land zwei Militärdiktaturen und das ebenso zweifelhafte Vergnügen erlebt, von Benazir Bhutto und Nawaz Sharif regiert zu werden. Eine Landreform, ein gerechteres Steuersystem, eine Bildungsreform – das alles hat keine der Regierungen ernsthaft in Angriff genommen. Innenpolitisch dreht sich Pakistan, so scheint es, seit Dekaden im Kreis.

Außenpolitisch spielt sich hier Weltgeschichte ab. In Afghanistan marschierten die Sowjets ein und wurden mithilfe unter anderem des CIA und Osama bin Ladens wieder hinausgeworfen. Den späteren Bürgerkrieg im Nachbarland gewannen die von Pakistan protegierten Taliban. Islamabad testete Ende der 90er mehrere Atomsprengköpfe und wurde scheinbar endgültig zum Paria. Doch nach den Anschlägen des 11. September 2001 vor die Wahl gestellt, sich für oder gegen die USA zu entscheiden, wurde das Land nominell zum wichtigsten Verbündeten der Amerikaner im Antiterrorkampf. Wie stabil diese Verbindung nach der Erschießung des Al-Qaida-Chefs durch die Navy Seals in Sichtweite einer der Militärakademien Pakistans noch ist, ist offen.

Dabei ist eines immer gleich geblieben, quasi der rote Faden der pakistanischen Politik und laut Najam Sethi oder John Alexander Malik, aber auch ehemaligen Militärs, das größte Problem, das für Pakistans Negativkreislauf verantwortlich ist: Die Fixierung der Armee auf Indien.

Seit der Staatsgründung 1947 und besonders seit dem Verlust Ostpakistans, dem heutigen Bangladesch, hat sich der Komplex gegenüber dem großen Nachbarn tief im institutionellen Gedächtnis des Militärs eingegraben. Und weil die Armee immer wieder die Geschicke im Land an sich gezogen hat, wird seit Jahrzehnten statt in Bildung in Rüstung investiert, ist das Militär zur wichtigsten wirtschaftlichen Institution im Lande geworden, und lässt die Angst, von Indien in die Zange genommen zu werden, den Sicherheitskräften aus ihrer Sicht gar keine andere Wahl, als die Extremisten in Afghanistan und Kaschmir zu unterstützen. Wobei sich viele inzwischen fatal an die Geschichte vom Zauberlehrling erinnert fühlen.

Nun tut die Armee – spätestens seit die Extremisten auch im eigenen Land immer brutaler werden – einiges im Antiterrorkampf. Etwa 140000 Soldaten und Mitglieder des Frontier Corps sind in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan stationiert, mehrere tausend Soldaten sind dort seit 2001 im Kampf getötet worden. Doch ein Militär, der selbst in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan seinen Dienst geleistet hat, zeichnet – anonym – ein haarsträubendes Bild. Besonders viel könne man gegen die Terroristen dort nicht tun, schließlich trügen dort alle Männer einen Bart und eine Waffe, sagt er. „Erst wenn sie auf dich schießen, weißt du, woran du bist.“ Außerdem würden der CIA und die Inder ohnehin die pakistanischen Taliban unterstützen, während Pakistans militärischer Geheimdienst ISI auf Seiten der afghanischen Taliban stünde. „Die Haqqanis“, sagt der Mann, und meint damit einen mächtigen Klan, der hinter vielen Anschlägen gegen die NATO in Afghanistan steckt, „die sind unsere Verbündeten.“

Nun sprießen in Pakistan die Verschwörungstheorien schnell, und Widersprüche stören dabei noch am wenigsten. Letztlich ist es aber irgendwann egal, wer im ISI nun die Taliban unterstützt oder nicht, wie es auch keine entscheidende Rolle mehr spielt, ob Militärchef Parvez Kayani wirklich der mächtigste Mann im Land ist – wenn es ohnehin alle glauben.

Und ein paar Fakten gibt es auch: Mit Kayani hat der ISI quasi die Führungsspitze des Militärs besetzt. Vor seinem Amtsantritt als Chief of Army Staff war der General Chef des Geheimdienstes. Dass sich auf diese Weise keine genuin indienfreundliche Haltung der Militärspitze bemächtigt hat, liegt nahe.

Im Punjab soll heute die nach den Anschlägen von Mumbai offiziell verbotene Lashkar-e-Taiba mittels Tarnorganisationen weiteroperieren. Dass Mitglieder des ISI in die Aktion vom Herbst 2008 involviert waren, gilt als sicher. Zwar hat man vor ein paar Monaten die seitdem ausgesetzten Gespräche zwischen Indien und Pakistan wieder aufgenommen. Doch falls es zu einem neuen Attentat kommen sollte, ist völlig offen, wie die Hardliner der indischen Seite reagieren könnten. In Pakistan jedenfalls gibt es Betonköpfe wie den alternden Präsidenten von Assad Kaschmir, die sagen: Wenn sich die indische Seite nicht unseren Vorstellungen beugt, gibt es eben irgendwann einen Atomkrieg, und dann ist alles vorbei.

„Die Falken bei uns wie bei den Indern sind auf eine Konfrontation aus“, sagt Najam Sethi. Dass die Amerikaner unter George W. Bush einen Nukleardeal mit Delhi abgeschlossen haben, diesen aber den Verbündeten in Islamabad verweigern, hat das Misstrauen gegenüber den USA und Indien gleichermaßen weiter angeheizt.

Im Haus von Najam Sethi ist es dunkel geworden, der Abend senkt sich über die Stadt. Der Hausherr, der sich mit viel Gefühl über die Geschicke seines Landes ausgelassen hat, ist verstummt. Und dann erzählt er, auf einmal sehr leise, dass er nicht weiß, wie sein ganz eigenes Leben weitergehen wird. Schon vor einigen Jahren hatten ihm Extremisten mit dem Tod gedroht. Jetzt wissen die Behörden erneut von konkreten Todesdrohungen gegen ihn. „Was soll ich tun“, sagt er, „ich könnte in jedes Land im Westen gehen. Aber ich will hier bleiben. Pakistan ist meine Heimat.“

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