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Oliver Lepsius: „Niemand traut sich an heikle Zukunftsfragen“

Glamour à la Guttenberg hilft dem Land nicht weiter, sagt Oliver Lepsius. Ein Gespräch über Wehrpflicht, Stuttgart 21 und politische Kultur.

Herr Lepsius, Sie waren Teil eines politischen Erdbebens. Mit einem einzigen Satz haben Sie in der wohl größten deutschen Polit-Affäre des Jahres 2011 eine Hauptrolle gespielt und zum vorläufigen Aus von Karl-Theodor zu Guttenberg beigetragen. Der Satz lautete: „Wir sind einem Betrüger aufgesessen.“

Dass Guttenberg zurücktreten musste, hat er sich schon selbst zuzuschreiben. Er hatte sich durch Verleugnung und Verdrängung in eine Situation der Ausweglosigkeit gebracht.

Trotzdem hat Ihre Äußerung im Fernsehen den Sturz beschleunigt.

Wenn ich jenen Satz nicht gesagt hätte, hätte ihn ein anderer gesagt. Mir kam ja nur so viel Aufmerksamkeit zu, weil ich an der betroffenen Universität Bayreuth als Nachfolger von Guttenbergs Doktorvater lehre.

Viele Bürger, aber auch Politiker und Kommunikationsprofis von der Kanzlerin bis zur „Bild“-Zeitung haben Guttenbergs Vergehen erst als Kavaliersdelikt abtun wollen. Was sagt das über die politische Kultur in Deutschland?

Der Fall Guttenberg ist in der Tat symptomatisch für die politische Kultur. Er offenbart eine enttäuschte Sehnsucht vieler Menschen nach dem guten, interessanten und auch attraktiven Politiker. Den Vorwurf „Ihr demontiert unseren Liebling!“ will ich deshalb gar nicht kritisieren. Die Bevölkerung wünscht sich Personen, bei denen sie das Gemeinwohl in besonderer Weise aufgehoben glaubt. Und sie projiziert diese Sehnsucht auf jemanden, der zu einer entsprechend gewinnenden Inszenierung fähig ist.

Eine Art Anti-Politiker?

Ja. Wir haben einige davon, etwa Peer Steinbrück oder auch Wolfgang Schäuble. Sie stehen, aus unterschiedlichen Gründen, ein Stück weit außerhalb des alltäglichen politischen Diskurses. Sie verkörpern Distanz, provozieren, erscheinen dem Volk als geistig und im Fall zu Guttenberg auch als materiell unabhängig. Anscheinend honorieren die Menschen das. Das Problem ist nur: Es muss einhergehen mit politischer Kompetenz. Das eigentliche Talent Guttenbergs liegt ja darin, dass er mehr Fragen von Anstand, Stil und Etikette zum Gegenstand der Politik gemacht hat als Sachfragen.

Erleben wir eine Entpolitisierung der Öffentlichkeit, oder ist es nur eine Verschiebung weg von den alten Strukturen, von den festen Parteizugehörigkeiten hin zu Personen und zur Show?

Wir beobachten gewiss eine Entpolitisierung, wenn Stilfragen inszeniert werden. Diese Anti-Politik hat nämlich einen paradoxen Effekt: Guttenbergs Mischung aus Glamour und medialer Volksnähe hat viele eher unpolitische Menschen für Politik interessiert, aber dieses Interesse zugleich auf unpolitische Themen gerichtet. Zur Lösung komplizierter Sachfragen tragen Inszenierungen à la Guttenberg nichts bei.

Lesen Sie auf Seite zwei mehr darüber, wo die neuen engagierten Bürger in der politischen Kultur stehen.

Wenn Guttenberg Teil der Entpolitisierung war, was bedeuten dann die Wutbürger von Stuttgart 21, die Hamburger Proteste gegen eine Schulreform oder die Berliner Fluglärm-Gegner? Sind nicht sie und die neuen Medien Multiplikatoren neuer Partizipationsformen und einer neuen politischen Kultur?

Die neuen Medien erweitern zweifellos das Spektrum der politischen Willensbildung und schaffen neue Formen der Partizipation. Aber diese Funktion wird auch überschätzt, denn wer bestimmt, welche Debatten dort geführt werden? Das bestimmt nicht unbedingt die Gemeinde als solche, es muss irgendjemand vorgeben. Agenda-Setting ist im Internet genauso wichtig wie in herkömmlichen Diskursforen.

Wo stehen die neuen engagierten Bürger, die gegen Schulreformen Volksentscheide durchsetzen oder Bahnhöfe verhindern wollen?

Dieses Engagement ist notgedrungen eine Konsequenz aus der Kapitulation vor den wirklich komplexen politischen Fragen – wie Klimawandel, Weltfinanzkrise, globaler Ressourcenschwund. Die Bürger denken heute stärker projektbezogen. Eine Schulreform, ein Bahnhof – das kann man begreifen, das sind begrenzte Ja-Nein-Konflikte. Es gibt keine internationalen Vernetzungen. Aber Politik ist mehr als ein einzelnes Projekt. Und bei Politik fallen wir oft in ein inhaltliches Loch.

Nicht nur die Öffentlichkeit versteht manche internationalen Zusammenhänge nicht mehr, Politiker tun das genauso wenig, wie man in der Finanzkrise lernen konnte. Aber wo ist das Loch?

In der genuin politischen Zone von Abwägungs- und Verteilungskonflikten. Stuttgart 21 etwa wurde als Projekt behandelt, aber es wurde vergessen, das Projekt zur politischen Frage zu machen, indem man die richtigen Fragen stellt.

Wie hätte man fragen müssen?

Können wir uns den Bahnhof leisten angesichts eines Verkehrsetats, der dann wichtigere Projekte ausschließt? Warum Stuttgart-Ulm, wenn Gütertrassen im Rheintal, im Containerverkehr zu den Nordseehäfen oder im Alpentransit dringlicher wären? Dort liegen die wirklich wichtigen Aufgaben, aber die können nicht bezahlt werden, weil Stuttgart wie ein Staubsauger das Geld an sich zieht.

Trotzdem starren alle nur auf Stuttgart.

Ja, weil Nutzen und Legitimation fraglich sind. Dieses Projekt verknüpft zwei Vorhaben zu einem Paket: Bahnhof und Schnellbahn. Dadurch kann Stuttgart 21 weder als Einzelvorhaben noch als gesamtgesellschaftliches Anliegen sinnvoll diskutiert werden. Das ist im Sinn der Akteure: Die Bahn möchte ihre Liegenschaften versilbern, Stuttgart ein neues Viertel und mehr Park gewinnen, das Land will Ulm anbinden, der Bund den Flugverkehr auf die Schiene bringen, und Europa will Paris mit Bratislava schneller verbinden. Also wird ein Megaprojekt entwickelt, das diese Interessen verknüpft, Zuständigkeiten überschreitet und auf einer Mischfinanzierung beruht. Am Ende ist keine Verantwortlichkeit für das Gesamtvorhaben erkennbar.

Lesen Sie auf Seite drei, warum es darum geht, Probleme überhaupt einmal ernsthaft zu diskutieren.

Ist das mit Tricks à la Geißler – Kopf- plus Tiefbahnhof – noch zu retten?

Man kann Stuttgart 21 nicht aufschnüren, um diese Verantwortlichkeit herzustellen, weil es dann zerbräche. Das Gesamtprojekt kann so nicht legitimiert werden. Der Stuttgarter Stadtrat entscheidet nicht über die Schnellbahn nach Ulm, der Bundestag beim Verkehrsetat nicht über die Stadtplanung in Stuttgart. Und beide wollen an die Zuschüsse aus Brüssel, die es nur gibt, wenn man den Bahnhof als Flaschenhals in transeuropäische Netze einbaut. Außerdem war die Bahn sehr geschickt, ihre Gewinn- und Wettbewerbsinteressen verschiedenen Gemeinwohlträgern schmackhaft zu machen, die über den Sinn des Ganzen aber nicht entscheiden. All das ahnen die Bürger, und es empört sie.

Dennoch gibt es eine Rechtsgrundlage. Kann man nun einfach daherkommen als Bürger und sagen, das wollen wir aber jetzt nicht mehr?

Spannende Frage. Die Bahn sagt, wir haben einen Rechtstitel, wir dürfen bauen. Andere sagen, der Rechtsstaat muss sich grundsätzlich durchsetzen und darf nicht weichen vor den Protestlern. Das erste Problem freilich ist: Genügt hier das Planungsrecht, um das Projekt angesichts seiner gesellschaftlichen Auswirkungen zu legitimieren? Das zweite Problem: Inwieweit sind wir heute an Entscheidungen gebunden, die vor vielen Jahren unter ganz anderen Bedingungen und Mehrheiten getroffen wurden? Wer jetzt bloß auf ein Baurecht pocht, argumentiert undemokratisch, denn die Demokratie bezieht ihre Legitimation auch aus der Veränderbarkeit von Beschlüssen, zumal wenn sich die Bedingungen ändern. Die Verfassungsordnung erklärt nicht den Rechtsstaat zum Maßstab für die Demokratie, sondern zu ihrem Mittel. Wer veränderten Mehrheiten und Präferenzen keine Durchsetzungschance eröffnet, entwertet die Demokratie.

Sie plädieren dafür, dass Politik veränderbar bleibt und Komplexität reduzieren muss, damit Probleme verständlich werden?

Es geht darum, Probleme überhaupt einmal ernsthaft zu diskutieren. Schauen Sie sich heutige Entscheidungen wie die Bundeswehrreform an. Um die Einführung der Wehrpflicht hat einmal das halbe Land gerungen, darüber haben die besten Köpfe der jungen Bundesrepublik gestritten. Jetzt hat man die Abschaffung der Wehrpflicht nicht einmal mehr im Kabinett debattiert, der zuständige Ressortminister hat sie nach rein haushaltspolitischen Erwägungen vorgetragen, und das Kabinett – aber auch die Regierungsparteien – haben sich das gefallen lassen. Tatsächlich aber geht es um eine gesellschaftlich höchst relevante Frage, ob wir eine Söldnerarmee wollen oder weiterhin den Bürger in Uniform. Ganz abgesehen vom Ende des Zivildienstes und noch unabsehbaren Folgen für die sozialen Systeme im Land. So entzieht man sich dem politischen Kerngeschäft.

Von der in diesen Prozessen schwindenden Attraktivität der alten Volksparteien profitieren die Grünen.

Die Grünen sind vielleicht im Vorteil, weil sie eine projektbezogene Diskussionskultur haben. Aber insgesamt kommen doch bei allen Parteien die gesamtgesellschaftlichen Fragen zu kurz. Dass die SPD wegen der Hartz-Reformen vom Wähler abgestraft wurde, hat das politische Klima verändert. Niemand traut sich mehr an die heiklen Zukunftsfragen heran. Wenn die Parteien mutlos sind, liegt noch mehr Verantwortung beim Wähler. Man muss dem Volk klarmachen, dass es sich nicht nur in die Konsumentenrolle zurückziehen, nicht nur projektbezogene Partizipation üben und sonst auf alles schimpfen kann. Dazu brauchen wir auch eine Kultur des Kompromisses.

Lesen Sie auf Seite vier mehr über die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes.

Ist das nicht langweilig?

Oh nein! Es ist zutiefst demokratisch, eine Kultur des Kompromisses verständlich zu machen. Wir sprechen in Deutschland oft von „faulen Kompromissen“. Diese Semantik ist nicht hilfreich. Unter den Bedingungen der Demokratie kommt selten mehr als ein Kompromiss zustande! Bei uns ist ja nicht das Problem, dass wir zu wenige unterschiedliche Meinungen haben, das Problem ist, für Entscheidungen zustimmungsfähige Mehrheiten zu finden. Wenn es hier schwierig wird, sagt die Politik gerne, eine Entscheidung sei „alternativlos“. Damit stiehlt man sich aus der Begründung und Verantwortung.

Es gibt eine verstärkte Tendenz, dass politische Grundsatzfragen am Ende durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden. So werden Regierung und Parlament ein Stück weit entmachtet.

In Deutschland liebt man die Delegation: an Experten, den Markt oder auch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Immer häufiger schreibt man politische Ziele ins Grundgesetz und macht dadurch einen aktuell gefundenen Kompromiss zu einer Sache des Verfassungsrechts. So verengt Politik ihren eigenen Handlungsspielraum. Das ist für eine Demokratie nicht wünschenswert, denn es macht eine politische Entscheidung zur justiziablen Frage. Jetzt kann unter Berufung auf das Grundgesetz geklagt werden, und das Bundesverfassungsgericht ist gezwungen, sich damit zu befassen.

Sie hätten die Schuldenbremse für die öffentlichen Haushalte also nicht ins Grundgesetz geschrieben?

Das halte ich für einen Fehler. Das ist nur verständlich, wenn die Politik keine Fähigkeit zur Selbstkontrolle mehr aufbringt. Man hat kein Vertrauen mehr zu sich selbst und gesteht damit die Unfähigkeit ein, die Ausgabenpolitik im eigenen Kompromissverfahren angemessen zu entscheiden. Bisher war die Budgethoheit ein Königsrecht des Parlaments, jetzt mögen andere darüber wachen! Die Schuldenbremse soll die Leute beruhigen, aber sie überfordert die Gerichtsbarkeit.

Sitzt das Bundesverfassungsgericht insoweit in einer politischen Falle?

Ja, zum einen weil die Politik Themen verrechtlicht, zum anderen weil das Gericht oft wie ein Gesetzgeber agiert. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet immer weniger konkrete Fälle, sondern benutzt den Fall, um einen allgemeinen verfassungsrechtlichen Rahmen vorzugeben. Das halte ich für problematisch, weil wir ja nicht wissen, wie die Zukunft aussieht. Praktisch führt die Verfassungsrechtsprechung immer mehr zur Einengung künftiger Gestaltungsräume und fördert die Entpolitisierung der Politik.

Lesen Sie auf Seite fünf mehr über Deutschlands politische Kultur im internationalen Vergleich.

Diese Entwicklung ließe sich doch umkehren.

Nur durch Karlsruher Selbstbeschränkung, „judicial self-restraint“ nennen wir Juristen das, also wenn das Bundesverfassungsgericht der Politik belässt, was zur Politik gehört. Zum Beispiel war das Urteil zu den Hartz-IV-Gesetzen nicht sinnvoll ...

... das Gericht hat 2010 die „Regelleistungen“ zur Deckung des Existenzminimums moniert.

Man kann aber keinen verfassungsrechtlich verbindlichen Rahmen formulieren, um Detailfragen der sozialen Bedürftigkeit, der Armutsbekämpfung und bestimmter finanzieller Regelsätze zu beantworten. Das kann in aller notwendigen Unvollkommenheit nur genuin politisch geregelt werden: als gesetzgeberischer Kompromiss zwischen sozialethischen Zielen und finanzpolitischen Möglichkeiten. Es geht um Abwägungsentscheidungen, die nur in Grenzen justiziabel sind, die das Bundesverfassungsgericht aber genauesten Rationalitätskriterien unterwirft.

Mit statistischen Durchschnittswerten zum Grundbedarf etwa von Kindern und Erwachsenen …

Ja, daraus soll dann ein vermeintlich unangreifbares Konzept abgeleitet werden. Tatsächlich aber geht es doch um einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen parteipolitischen Vorstellungen, Bund-Länder-Konflikten sowie gesellschaftlichen Erwartungen und knappen öffentlichen Mitteln. Wenn Hartz IV am Ende im Vermittlungsausschuss beschlossen wird, dann dürfen Sie keine idealen Konzepte erwarten. Oder nehmen Sie das Urteil zur Pendlerpauschale: Da hat das Bundesverfassungsgericht verboten, zwischen Entfernungen über und unter 20 Kilometern zur Arbeitsstätte zu unterscheiden, das verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Solche Differenzierungen aber sind das tägliche Brot der Politik! Das Gericht glaubt damit, Grundrechte des Bürgers zu schützen, und verkennt zugleich die Grundbedingungen politischer Entscheidungen, die in der Demokratie eben auf aktuellen Kompromissen und nicht auf ewigen Wahrheiten beruhen. Die Richter reflektieren nicht mehr hinreichend die Voraussetzungen dessen, was sie kontrollieren. Sie privilegieren den Rechtsstaat gegenüber der Demokratie.

Wenn wir unsere politische Kultur im Moment international vergleichen, dann liegt angesichts der Berlusconis und Strauss-Kahns trotz allem auch eine gewisse moralische Überheblichkeit nahe.

Ach, so tugendhaft sind wir gar nicht. Aber das Privatleben interessiert uns erfreulich wenig. Die Amerikaner sind da viel empfindlicher als wir. Die sexuelle Orientierung von Spitzenpolitikern hat die deutsche Bevölkerung doch mit einer Lässigkeit aufgenommen, über die man sich freuen kann. In Amerika ist keiner ein guter Präsident, der nicht auch den guten Ehemann spielt.

Das Interview führten Peter von Becker und Armin Lehmann.

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