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Politik: Ordnung muss sein

Von Stephan-Andreas Casdorff

Es kann ein Grundsatzstreit werden, das hat die vergangene Woche zu Tage gebracht. Der Streit könnte sogar zum Kulturkampf werden, das haben die Reden deutlich gemacht, von Kanzler Schröder über Vizekanzler Fischer bis Ministerpräsident Steinbrück auf der einen Seite und Präsident Köhler mit Kanzlerkandidatin Merkel auf der anderen.

Nach der so genannten Wende von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl 1982 geht es diesmal vielleicht wirklich darum, welche geistigmoralische Wende Deutschland vollzieht. Und zwar anhand solcher Fragen: Wie weit wird der einzelne Mensch als Sozialwesen definiert, als jemand, der nicht ohne einen anderen zu leben in der Lage ist? Wie weit reicht dann, je nach sozialdemokratischem und christlich-demokratischem Empfinden, die Pflicht zur Hilfe für diejenigen, die in Not sind, um ihre Würde zu erhalten? Und welche Rolle hat Politik?

Die Ordnung der Freiheit hat Präsident Köhler zu Anfang der Woche angesprochen. Eine bedeutende Rede, aber anders, als von ihm gedacht. Ihre Langzeitwirkung macht sie bedeutsam. Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie scheinen keine Wirkung zu tun, aber nach einiger Zeit ist sie doch da. Was gegen sein Plädoyer für mehr Freiheit von Ordnung spricht, ist fast schon einen philosophischen Diskurs wert. Kurz gefasst: Es lässt sich der Staat nicht bis ins Kleinste deregulieren; und es lässt sich nicht jeder Mensch zu seinem eigenen Unternehmer mutieren. Denn Unternehmer kann schlicht nicht jeder werden, weil nicht alle dazu befähigt sind. Wenn alle dem freien Spiel der freieren Kräfte überantwortet würden, wäre das noch in Ordnung?

Es war eine Woche erklärender und klärender Reden. Erwachsene Menschen, so hat Wolf Schneider errechnet, werden jeden Tag mit rund 38000 Wörtern konfrontiert. Die politische Botschaft, die nun jeden erreicht haben sollte, lässt sich kürzer fassen, ohne „Wölbungen“, wie Fritz J. Raddatz sie nannte: Jeder sorgt zuerst für sich selber. Verkäufer, Busfahrer, Arzthelfer, alles keine Unternehmer – sie können sich weniger darauf verlassen, dass morgen noch gilt, wofür sie gestern in Versicherungen gegen die Risiken in ihrem Leben eingezahlt haben. Leben ist Risiko ist Kapitalstock, und die Zukunft liegt in der stärkeren Freiheit des Marktes vom Sozialen, weil nur so vom Sozialen etwas übrig bleibt. Das ist der neue Leitsatz. Der führt zurück zum Verdacht, dass die Reformen zu radikalem Umbau, Abbau des Sozialen genutzt werden sollen. Immerhin wird die soziale Marktwirtschaft als politisch-wirtschaftlicher Inbegriff einer neuen, auch moralischen Ordnung nach den Kriegen zur Debatte gestellt. Vor allem von den Nachfahren ihrer Erfinder. Köhler hat den Begriff nicht einmal erwähnt.

Dabei ist richtig, dass die Eigenverantwortung jedes Einzelnen gestärkt werden muss. Doch Demokratie ist mehr, als den Rahmen für mehr Wirtschaftswachstum abzugeben. Und Politik? Nach dem aristotelischen Gedanken ist Politik das geordnete Zusammenleben von Menschen. Um solche Ordnung geht der Streit. Er ist notwendig. Es geht um Grundsätze. Es geht um ethische Gesichtspunkte, wie der menschengemachte Markt human gestaltet werden kann, Menschen würdig, die Würde des Einzelnen im Sozialen wahrend.

Das ist schon in Ordnung.

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