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Organstransplantation: Die Zweifel am System wachsen

Es geht ums Überleben. 12 000 Menschen in Deutschland warten derzeit auf ein Spenderorgan. Aber nur ein Drittel hat 2011 ein Transplantat erhalten. Wer kommt als Erster dran? Wer entscheidet das? Und kann es dabei überhaupt gerecht zugehen?

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Das Gipfelkreuz, 3168 Höhenmeter. Dort stand er vor drei Jahren, auf dem Hohen Riffler in den österreichischen Ostalpen. Anstrengend war es, aber  das Atmen fiel Cornelius Förster nicht schwer. Noch drohte er nicht zu ersticken.

Am Mittwoch dieser Woche sitzt derselbe Mann auf seinem Krankenbett, eine Sauerstoffmaske in der Hand, und weiß, wie es ist, keine Luft mehr zu kriegen, obwohl die Lungen pumpen wie verrückt. „Ich hatte den Tod vor Augen“, sagt der 31-Jährige.

Der schmale Mann, 55 Kilogramm, 1,80 Meter groß, ist an Infusionen angeschlossen, auf dem Nachttisch steht ein Beatmungsgerät, das er nur noch nachts braucht. Cornelius Förster schaut aus dem Fenster. Heute könne er sich das nicht mehr vorstellen, wie es vorher war, das sich zuschnürende Leben, das er führte. Bis er im April das „Riesengeschenk, das Wunder“, wie er sagt, erhielt: eine neue Lunge.

Cornelius Förster hat Mukoviszidose, eine angeborene Stoffwechselerkrankung. Sie verschlimmerte sich plötzlich, der körperliche Verfall erfolgte rasant. Eben der Alpengipfel, dann nur noch Atemnot. Bei dieser Krankheit, auch cystische Fibrose genannt, sind Kanäle der schleimbildenden Drüsen gestört. Dieser Schleim, den der Körper zur Reinigung und als Schutzfilm braucht, ist zu zäh, kann nicht abfließen und verstopft systematisch die Organe: Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse und Darm. Typisch für Mukoviszidose-Kranke sind chronische Lungenentzündungen.

Bis vor vier Jahren führte Cornelius Förster ein fast normales Leben. Er arbeitete als Bürokaufmann, traf sich mit Freunden, hatte eine eigene Wohnung. Und man würde es gar nicht erwähnen, wenn das alles heute immer noch so wäre. Es begann damit, dass die Blutwerte schlechter wurden und er immer öfter zusätzlich Sauerstoff brauchte, zunächst nur nachts, dann auch tagsüber. Er musste seine Arbeit aufgeben und war auf die Hilfe von Familie und Freunden angewiesen. „Jeder Schritt war anstrengend. Meine Wohnung konnte ich nicht mehr verlassen“, sagt Förster. Es wurde so schlimm, dass er im vergangenen Jahr auf der Mukoviszidose-Station in der Charité aufgenommen werden musste. Die Ärzte sprachen mit ihm über eine Lungentransplantation. „Ich bin ein zäher Mensch. Ich will leben, obwohl ich Angst hatte, das nicht mehr zu schaffen.“

Cornelius Förster war nun ein weiterer Name auf der Transplantationsliste. Ein Anwärter auf etwas, von dem es in Deutschland zu wenig gibt, ein neues Organ. Eine Garantie, es noch rechtzeitig zu erhalten, gibt es für niemanden. Und es spiele auch keine Rolle, wie viel Geld jemand habe, sagen diejenigen, die das Transplantationssystem verteidigen.

12 000 Menschen warten derzeit in Deutschland auf ein Organ oder mehrere Organe gleichzeitig: Herz, Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm oder Niere. Dem stehen 4054 Patienten gegenüber, die 2011 ein Transplantat eingesetzt bekamen. Aber wer kommt als Erstes dran? Und wer entscheidet über die Reihenfolge auf den Organ-Wartelisten?

Nach dem Skandal um möglicherweise gekaufte Spenderorgane in Göttingen und Regensburg halten viele das System für undurchsichtig. Es sei anfällig für Betrug und Korruption. Ärzte, die von ihren Patienten bedrängt würden, könnten Kontrollen umgehen. Die Bundesärztekammer sprach sich am Donnerstag nach einer Krisensitzung deshalb dafür aus, das „Mehr-Augen-Prinzip“ bei der Zuteilung von Spenderorganen einzuführen.

Das Dilemma des Systems ist damit nicht aus der Welt geschafft. Bei der Entscheidung über Leben und Tod muss es oft schnell gehen und soll gerecht bleiben. Diejenigen, die ein Organ am nötigsten brauchen, sollen es auch am schnellsten kriegen können.

"Warum sind die Systeme so entwickelt worden?" fragt sich ein Arzt.

Försters Zustand verschlechterte sich rapide. Auf der Liste rückte er trotzdem nicht nach oben. Er kam auf die Intensivstation, wo er entweder sterben oder eines jener Organe im Eilverfahren zugeteilt bekommen konnte, die in räumlicher Nähe des Spender verteilt werden mussten. Darüber wacht Eurotransplant. Die Stiftung im niederländischen Leiden steuert für Deutschland, Österreich, Slowenien, Kroatien und die Benelux-Staaten die Organzuteilung, hier werden zentral alle Anwärter erfasst und einem komplizierten Ranking unterworfen. Alle anderen europäischen Länder, mit einer erheblich höheren Spendenbereitschaft, haben eigene nationale Organisationen zu diesem Zweck aufgebaut.

„Je mehr ich mich mit Transplantationen befasse, desto mehr Fragen habe ich“, sagt Carsten Schwarz. Er ist Oberarzt am Virchow-Klinikum und Lungenspezialist. Aber ihm erschließt sich nicht mehr, „warum die Systeme so entwickelt worden sind“.

Durch den Organspendeskandal trifft man in diesen Tagen viele Mediziner, die offen über mögliche Manipulationen nachdenken. Kann man ein Spenderorgan älter oder schlechter einstufen, nur damit es an den Wartelisten vorbei im Eilverfahren vermittelt wird? Theoretisch sei das möglich, sagen sie. Denn obwohl schon jetzt im Prinzip nie ein Arzt allein über die Organfreigabe bestimmt und immer zwei Mediziner den potenziellen Spender bewerten, gibt es Grauzonen. „Da kann auch mal“, wie einer sagt, „ein Mediziner mit einem Pfleger oder einem Studenten anwesend sein.“ Theoretisch kann ein Arzt auch allein festlegen, dass der eine Empfänger an dem fraglichen Tag vielleicht gerade „nicht transplantabel“ ist, während ein anderer bevorzugt würde. Wer kontrolliert das?

Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass bei komplexen medizinischen Entscheidungen Kontrollen viel zu aufwändig wären. Vielleicht misstraut man aber auch einfach nur der ärztlichen Ethik. Roland Hetzer, Direktor des Deutschen Herzzentrums Berlin, findet das System jedenfalls „klar und transparent“. Aber er sagt auch, dass das System verwirrend ist. „Wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir mit einem komplizierten System die wenigen Organe verteilen können.“ Als müsse das Verfahren die Tatsache verschleiern, dass es vor allem der Mangel an Spenderorganen ist, der die Mediziner in die Bedrouille bringt. Gäbe es mehr Organe, wäre das System einfacher.

Dreimal wurde Förster, der Intensivpatient, „abgerufen“. Das bedeutete, dass es irgendwo in Europa eine Lunge gab, die für ihn passen könnte. Cornelius Förster wurde in einen speziellen Vorbereitungsraum gebracht und wartete auf die Operation. Es klappte dreimal nicht, weil das Transplantationsteam das Organ für ungeeignet hielt. Dann wurde Förster, der aus eigener Kraft nicht mehr atmen konnte, an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und in ein künstliches Koma versetzt. Seither hat Försters Leben eine Lücke.

Als Cornelius Förster im April aufwacht, ist seine erste Frage: „Welches Datum haben wir heute?“

Drei Wochen war er weg. Seine Mutter sitzt bei ihm am Bett und sagt: „Mensch Conny, du hast eine neue Lunge bekommen.“ Der vierte Versuch war erfolgreich. Förster hebt sein T-Shirt hoch und zeigt eine gut verheilte Narbe, die sich quer über den Brustkorb zieht. Dahinter sitzt die neue Lunge. Er stellt sich oft vor, wo seine Lunge vorher war. Ist sie weit gereist, wo hat sie Sauerstoff aufgenommen? Vielleicht war sie vorher schon mal auf einem Berggipfel? „Ich bin dankbar, dass es einen Spender gab. Er hat mir ein tolles Geschenk gegeben, das ich annehme und aus dem ich das Beste mache“, sagt er. Cornelius Förster hat Glück gehabt.

D. hätte dieses Glück auch gern. Seit sieben Jahren steht sie auf der Liste, sie braucht eine neue Leber. Dafür aber geht es ihr noch zu gut. So wartet D., 41, nicht nur auf ein Organ, sie wartet darauf, dass es ihr schlechter geht. „Wenn es so weit ist“, sagt sie, „kümmern sich meine Ärzte sicher um eine Leber für mich.“

"Man kann nicht einen ganzen Berufsstand kriminalisieren, weil es ein schwarzes Schaf gibt."

Krank ist die zierliche blonde Frau seit 1995. Sie merkte es plötzlich daran, dass ihr Bauch anschwoll. Sie saß in ihrem Zimmer in London, wo sie studierte, weit weg von der hannoverschen Heimat, und hatte Angst. Diese Sache mit dem Bauch konnte sie sich nicht erklären. Sie ging ins Krankenhaus, wartete eine Weile in der Empfangshalle, sah die anderen Kranken, einen Mann, der aus dem Mund blutete, und niemand kümmerte sich um sie. D. setzte sich in den nächsten Flieger nach Deutschland.

In Hannover ging alles ganz schnell. Vom Flughafen zum Hausarzt, vom Hausarzt in die Medizinische Hochschule. „Und ich dachte, ich lass mir ein paar Pillen verschreiben und flieg’ wieder nach London“, sagt D. heute. Nach der Diagnose war es mit Pillen nicht getan: Lebervenenthrombose, Budd-Chiari- Syndrom. Die Lebervene verschließt sich, dadurch bildet sich ein Blutrückstau. Das Wasser, das im Blut gebunden ist, tritt in den Bauchraum ein – darum der angeschwollene Bauch.

Doch sie weiß es zu verstecken. Über der weißen Bluse trägt sie einen pink farbenen Schal, der ihr über den Bauch reicht. Nur wenn sie den zur Seite nimmt, sieht man ihren Bauch. D., randlose Brille, keinerlei Schmuck, kann man auch für schwanger halten. Das ist wohl das Schlimmste, dass „mich alle für schwanger halten, ich aber keine Kinder bekommen kann“, sagt sie.

Zehn Jahre lang ging alles gut. 2005 zerfiel ihr Leben dann langsam. Sie saß stundenlang auf der Couch und starrte ins Nichts. Die Ärzte sagten ihr, dass sie eine neue Leber brauche, es gehe nicht mehr. „Wenn ich morgen zwei Infektionen bekomme, macht die Leber das nicht mehr mit“ , sagt sie.

Der Organspendeskandal hat D. erschüttert. Den Glauben an das System hat sie dennoch nicht verloren. „Man kann nicht einen ganzen Berufsstand kriminalisieren, weil es ein schwarzes Schaf gibt“, sagt sie. Ihre Ärzte kennt sie seit Jahren, sie vertraut ihnen.

Es gibt nicht nur zu wenige Organspenden, auch die Empfänger befinden sich in einem moralischen Dilemma. 2005, als D. Lebervene wieder dicht machte, bot ihre Mutter ihr eine Lebendspende an, D. lehnte ab. „Es ging ja noch, und bevor meine Mutter sich aufschneiden lässt…“. Mittlerweile ist die Mutter zu alt, ihr Bruder hat sich angeboten. Doch D. vertraut darauf, dass sie eine Leber bekommt, wenn es ihr schlechter gehen sollte.

Sich auf illegalem Wege eine Leber verpflanzen zu lassen, etwa im Kosovo, schließt sie aus. Sie verurteilt die Menschen nicht, die es tun. „Doch man kann sich nicht an der Armut anderer Leute bereichern“. Womöglich würde der „Spender“ sterben. Damit würde sie nicht leben können.

Und so bleibt ihr nur das Warten.

Dass es auch anders geht, zeigt ein Fall aus Essen. Um die raren Spenderorgane nicht zur Ware für Patienten aus aller Herren Länder werden zu lassen, haben sich die Organvermittler von Eurotransplant mit den deutschen Kliniken eigentlich auf Regelungen für so genannte Non-Residents verständigt. Bei Lebertransplantationen etwa sollen Ausländer an deutschen Kliniken demnach nur in maximal fünf Prozent aller Fälle zum Zuge kommen. An dieser Stelle taucht in den Befürchtungen der Kritiker das Bild des reichen Scheichs auf. Ist die Non-Residents-Regelung das Schlupfloch, mit dem man sich ein neues Organ erkaufen könnte?

Ein Berliner Transplantationsspezialist winkt ab. Die Regelung sei auch für akute Notfälle gedacht. Und er erzählt die Geschichte eines italienischen Ravers, der nach Berlin kommt, Pillen schluckt, um in den Techno-Clubs durchzuhalten, und Alkohol trinkt. Und plötzlich kippt er um: akutes Leberversagen. Binnen drei Tagen braucht er ein neues Organ, sonst ist er tot. Als Nicht-Deutscher hätte er sonst keine Chance, auf die Warteliste zu kommen.

Mit Hinweis auf das Fünf-Prozent-Kontingent wollte Eurotransplant im Jahr 2007 eine israelische Patientin wieder von der Warteliste gestrichen haben. Die Frau, die an einer schweren Diabetes litt, war 2006 vom Essener Uniklinikum auf die Liste für eine kombinierte Nieren- und Bauchspeicheldrüsen-Transplantation gesetzt worden und hatte dem Krankenhaus für die Behandlungskosten vorab bereits 120 000 Euro überwiesen. Als die Israelin nun von der Warteliste gestrichen wurde, nahm sie sich einen Anwalt und zog vors Essener Landgericht.

Die Richter dort gaben ihr Recht. Die Israelin bekam die gewünschten Organe am Ende dann auch transplantiert.

Ein Transplantationszentrum könnte 30 Araber auf die Warteliste setzen - und niemand könnte es verhindern.

Man könne die deutschen Kliniken lediglich an die Selbstverpflichtung erinnern, heißt es dazu bei Eurotransplant. Einzufordern oder zu sanktionieren habe man diesbezüglich gar nichts. Und der Bochumer Transplantationsmediziner Richard Viebahn lässt sich mit dem Satz zitieren, dass die Stiftung auch einem Transplantationszentrum, das auf einen Schlag 30 Araber auf die Warteliste setzen würde, dies wahrscheinlich nicht verbieten könne.

Aber der umgekehrte Fall, nämlich eine in Paragrafen gegossene Ausgrenzung ausländischer Patienten, würde dem Grundsatz widersprechen, dass man hierzulande niemanden wegen seiner Herkunft benachteiligen darf. Aber man könnte den Non-Residents- Status ja wenigstens definieren. In Belgien ist man als Ausländer im Sinne der Selbstverpflichtung bei Organspenden erst voll anspruchsberechtigt, wenn man sechs Monate im Land gelebt hat.

Etwa 30 000 Organverpflanzungen hat es in Deutschland seit Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes vor elf Jahren gegeben. In 119 Fällen entdeckten die Prüf- und Kontrollkommissionen der Bundesärztekammer so genannte „Auffälligkeiten“. Und in 20 Fällen wurden die Behörden über Verstöße gegen die Organspende-Richtlinien informiert – darunter war auch die Verbandelung des seinerzeit noch in Regensburg und später in Göttingen auffällig gewordenen Transplantationsmediziners mit einer jordanischen Klinik.

Öffentlich bekannt geworden ist von all diesen Verstößen so gut wie nichts. Nicht einmal in Medizinerkreisen sprachen sie sich herum. Der verdächtige Regensburger Oberarzt hätte sonst, wie sie am Göttinger Uni-Klinikum beteuern, auch kaum den Chefposten in der Göttinger Transplantationschirurgie bekommen.

Die Hoffnung gibt D. nicht auf. Sie glaubt daran, auf legalem Wege in Deutschland eine Spender-Leber zu bekommen. Und sie glaubt, doch noch den Mann fürs Leben zu finden. Zuversichtlich macht sie die Geschichte eines Paares, das sie kennt. Dessen Liebe begann so, dass sie im Theater saß, der Platz neben ihr leer. Der Mann, der sich schließlich dort setzte, ist heute ihr Ehemann – und er hat seiner Frau eine Niere gespendet. „Das ist doch hochromantisch“, sagt sie.

Cornelius Förster kann mit seiner neuen Lunge fünf Jahre leben. Statistisch stehen seine Chancen bei 60 Prozent. Er wolle natürlich länger mit ihr leben und bald wieder auch Wandertouren durchs Gebirge machen. Die Mitgliedschaft im Alpenverein hat er bis heute nicht aufgegeben.

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