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ORTSTERMIN: Bürger, empört euch!

Nichts beglückt Veranstalter mehr, als wenn sie in ihrer Planung mit feinem Gespür ein Thema identifizieren, das zum Zeitpunkt der Festlegung zwar wichtig klingt, bis zum Termin selbst aber durch den Lauf der Dinge plötzlich so viel Sprengkraft entwickelt, dass die Zahl der Anmeldungen jene der Plätze weit übersteigt. So zogen jetzt die 19.

Nichts beglückt Veranstalter mehr, als wenn sie in ihrer Planung mit feinem Gespür ein Thema identifizieren, das zum Zeitpunkt der Festlegung zwar wichtig klingt, bis zum Termin selbst aber durch den Lauf der Dinge plötzlich so viel Sprengkraft entwickelt, dass die Zahl der Anmeldungen jene der Plätze weit übersteigt. So zogen jetzt die 19. Wittenberger Gespräche aus dem Tagungszentrum der Universität in die weit größere und an diesem grauen Märztag recht kalte Stadtkirche Sankt Marien, um über „Vertrauen in die Führungseliten der Gesellschaft“ nachzudenken und zu reden.

Das gewaltige Interesse war wohl auch dem Hauptreferenten, dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, geschuldet – würde er etwas zum schnellen Abgang seines Nachfolgers sagen? Und das ausgerechnet in der Predigtkirche Martin Luthers? Dessen Vertrauensverständnis im Verhältnis zwischen Elite – dem Fürsten – und dem Volk hatte Landesbischöfin Ilse Junkermann mit einem Zitat des Reformators beleuchtet: „Ein Fürst muss seinen Untertanen sein Herz zuwenden ...“ Mehr Vertrauen mag kaum sein.

Horst Köhler aber ging nicht in die ihm zugedachte Bekenntnisfalle. Fast schon am Begriff der Bibelarbeit bei evangelischen Kirchentagen abgelauscht, machte er sich auf zu einer „Arbeit am Begriff“. Es waren dann deren gleich vier, die es zu deuten galt – Vertrauen, Führung, Elite, Gesellschaft. Das war lehrreich, aber nicht ohne Längen. Zu Wulff jedoch fiel kein Wort. Allenfalls könnte man in einen Satz wie „Man muss in der Sprache auf Klarheit und Wahrhaftigkeit achten“ oder eine Anmerkung über „Menschen, die an Spitzenpositionen festhalten, ohne sie auszufüllen“, einen gewissen Bezug zum Verhalten des unglücklichen Nachfolgers hineindeuten. Aber auch die Medien bekamen ihr Fett weg (sie müssen verantwortungsvoll handeln) und die Politiker, die meinten, um die Medien buhlen zu müssen, und am liebsten in einem symbiotischen Verhältnis zur Presse lebten. Oder die Finanzwirtschaft (sie hat nicht genug Regeln und wird nicht geführt). Von Köhlers angeblich chronischer Neigung zur Medienkritik kann man da kaum reden. Seine Schlussfolgerung: „Führungseliten brauchen besonders viel Vertrauen, und deswegen stehen sie auch unter Dauerbeobachtung. Und wenn Vertrauen enttäuscht wird? Dann sollten wir weder zynisch noch abgebrüht reagieren, sondern es persönlich nehmen – und uns empören.“

Den Blick über Deutschland hinaus weitete Polens Botschafter Marek Prawda, wegen seiner nachdenklichen Klugheit längst so etwas wie der gefühlte Doyen des diplomatischen Korps. Er sprach über Europa vor und nach der Zeitenwende und die vertrauensbildenden Maßnahmen der Eliten zwischen den Völkern, über den Briefwechsel der polnischen und der deutschen Bischöfe in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, über Willy Brandts bewegenden Kniefall in Warschau und die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, von der sich die polnische Opposition lange nicht sicher gewesen sei, ob sie nicht ein zu weit gehender Kompromiss zwischen den Eliten von Ost und West gewesen sei.

Am nachdenklichsten freilich stimmte am Ende weder er noch Horst Köhler, sondern der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der auf eine Reihe zum Zeitpunkt ihrer Aufdeckung unglaublich schlagzeilenträchtiger Skandale der letzten Jahre zu sprechen kam, von Bonusmeilen der Lufthansa bis zu vielleicht leichtfertig in Spanien genutzten Dienstwagen. „Der Skandal ist für Medien ökonomisch profitabel“, stellte er, wohl im Hinblick auf die Auflagenentwicklung, fest, „doch die öffentliche Erregung hat eine sehr geringe Halbwertzeit; aber die von ihr Betroffenen sind vielleicht für ein Leben gezeichnet.“

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