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EU-Kommissarin Viviane Reding.

© dpa

Ortstermin: Pathos im Stuhlkreis

Die EU-Kommission sucht den Dialog mit den Bürgern. In Cadiz hörte sich Justizkommissarin Viviane Reding die Sorgen der von der Krise gebeutelten Spanier an. Anfang November soll der Dialog in Berlin fortgesetzt werden.

Ein bisschen eingeschüchtert sehen sie schon aus. Knapp 300 Einwohner der spanischen Kleinstadt Cadiz sitzen am Donnerstagmittag in der Kirche „Oratorio de San Felipe Neri“ auf Stühlen aus blauem Samt, aufgestellt in einem großen Stuhlkreis vor den goldenen Altären. Hier wurde vor 200 Jahren die erste spanische Verfassung unterzeichnet, und an diesen Ort hat die EU-Kommission eingeladen, weil sie ihre Bürger kennenlernen will. Vize-Präsidentin Viviane Reding beginnt in Cadiz einen Bürgerdialog, der sie und andere Kommissionsmitglieder demnächst in alle Mitgliedstaaten führen soll. Auch nach Berlin wird Reding kommen, voraussichtlich am 10. November. Aber erst einmal will sie das Vertrauen der Spanier in Europa stärken.

Das ist gar nicht so leicht. Touristisch gesehen ist Cadiz zwar ein wunderschöner Ort mit langen Sandstränden, verwinkelten Gassen und viel Sonne – aber jeder Dritte steht ohne Arbeit da. Andalusien ist eine der ärmsten Regionen Spaniens, und die EU haben die Menschen in letzter Zeit vor allem durch Sozialkürzungen erfahren. Helfen will ihnen keiner, so sehen sie das hier und an vielen anderen Orten Spaniens. Die Teilnehmer für den Bürgerdialog wurden im Voraus ausgewählt, möglichst repräsentativ sollte es sein. Im Stuhlkreis sitzen also Junge mit Smartphones genauso wie Alte, die sich mit Fächern Luft zufächeln.

Reding ist nervös. Jedes Diskussionsfeld (Krise, Bürgerrechte, Zukunftsvisionen) wird von einem Video eingeleitet, auch per Twitter können Fragen gestellt werden, es gibt einen Livestream im Netz. Trotzdem weiß die Kommissarin nicht, ob die Bürger den Dialog überhaupt wollen und wie er aussehen wird. Also klettert sie erst mal vom Podium herunter, läuft den Stuhlkreis ab, schaut den Menschen in die Augen. Sie sagt: „Ich will wissen, wie Sie sich ein Europa der Zukunft vorstellen, bevor ich es mit anderen Politikern gestalte.“ Sie will zeigen, dass die Politik aus dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrags 2005 gelernt hat. Diesmal sollen die Bürger sich eingebunden fühlen. Dabei spart Reding nicht an Pathos, Europa ist ihre Mission.

Die Wortmeldungen in der Kirche sind spontan. Eine Frau schimpft auf die Deutschen. Ein Verbandsvertreter beklagt die Situation der Kleinunternehmer. Eine junge Frau im Rollstuhl spricht über Sozialkürzungen und erzählt, dass man ihr die Person wegnehmen könnte, die ihr beim Essen und Waschen hilft und gerade das Mikrofon hält. Da kommen einigen die Tränen. Es sind mehr Sorgen als Träume, die bei diesem Treffen angesprochen werden. Zum Schluss aber bekommt Viviane Reding das „Cadizer Manifest“ überreicht, online gesammelte Wünsche an Europa. Reding freut sich. Auch sie hat in den vergangenen Monaten eine Online-Konsultation angestrengt, bei der 12 000 Menschen Ideen für Europa eingereicht haben. Die Ergebnisse will sie gemeinsam mit der Auswertung der Bürgerdialoge am 9. Mai 2013 vorstellen. 2013 hat sie zum Jahr der Bürger ausgerufen.

Am Ende wird die Europahymne gespielt. Laut dröhnt sie durch die Kirche, Reding und die Moderatorin stehen stramm. Zögerlich erheben sich die Bürger von den Stühlen, dann stolpern sie ins helle Licht nach draußen. Eine Ecke weiter verkauft ein Mädchen Brötchen in einem Kiosk. Weiß sie, was für eine Veranstaltung heute stattgefunden hat? Nein, sagt sie. Sie sehe nur die Fernsehkameras, es müsse wichtig gewesen sein. Europa? Das interessiere sie nicht. Das Brötchen koste übrigens zwei Euro.

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