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Fotos: dpa (2); Montage: Tsp

© dpa/dpaweb

Was wäre, wenn?: Osama bin Laden vor Gericht

Al-Qaida-Chef Osama bin Laden ist am 2. Mai erschossen worden. Was wäre gewesen, wenn er verhaftet worden wäre - und sich vor Gericht hätte verantworten müssen? Eine Satire.

Von Caroline Fetscher

2. MAI 2011

PAKISTAN

Im Luftkurort Abbottabad dringen Navy- Seals der US-Armee unangekündigt per Helikopter in eine Villa ein, entwaffnen ein Dutzend schlafender Leibwächter und nehmen den von Interpol gesuchten, mutmaßlichen Terroristen Osama bin Mohammad bin Awad bin Laden fest. Der 54-Jährige wird belehrt, dass es sein Recht sei, zu schweigen, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet werden kann, und er einen Anwalt anrufen kann. Bin Laden wirkt verschreckt, zeigt sich aber kooperativ. Unter Aufsicht der Spezialeinheit packt er Ausweis, Wäsche und Zahnbürste ein. Seine drei Ehefrauen erinnern ihn an seine blutdrucksenkenden Dragees, die von den Navy-Seals in eine Kühltasche verfrachtet werden. Bin Laden verabschiedet sich von Frauen, Kindern und den Leibwächtern. Über Kabul geht es per Militärmaschine nach Ankara. Beim Nato-Partner soll eine medizinische Untersuchung des Häftlings erfolgen.

3. MAI 2011

ANKARA/NEW YORK

Per Twitter und Internet verbreitet sich die Kunde der Festnahme noch während des Flugtransports. In Pakistan, der Türkei und Staaten des Mittleren Ostens werden Proteste laut. Ankara wehrt ab: „Obwohl wir den Terror verdammen, sehen wir uns außerstande, den durch Eindringen auf fremdes Territorium illegal festgenommenen bin Laden unser Staatsgebiet betreten zu lassen. Wir bitten die alliierten Partner um Verständnis.“ Erlaubnis zum Auftanken der Transall-Maschine und die Genehmigung, ein Ärzteteam an Bord zu lassen, werden gegeben. Heftige Debatten auf allen Kanälen internationaler Medien beginnen. War diese Festnahme illegal? Durfte man bin Laden so einfach fortschaffen? Was haben die USA zu verbergen?

4. MAI 2011

WASHINGTON

Bin Laden wird in den USA dem Haftrichter vorgeführt und in den Hochsicherheitstrakt einer Untersuchungshaftanstalt eingeliefert, deren Lage geheim bleibt. Es blühen die Spekulationen um den Aufenthaltsort. Human Rights Watch und Amnesty International beantragen, unverzüglich den Inhaftierten besuchen zu dürfen. „Wir sind in großer Sorge um das Wohl des Angeklagten“, sagt ein Menschenrechtsaktivist auf CNN und Al Dschasira. „Auch für ihn müssen die Menschenrechte gelten!“

6. MAI 2011

NEW YORK

New Yorks Staatsanwaltschaft beantragt, bin Laden vor ein Gericht an den Ort seines schwersten, mutmaßlichen Verbrechens zu transferieren, die Stadt der Attacke auf das World Trade Center vom 11.9.2001 mit 3000 Toten und 6000 Verletzten.

7. MAI 2011 – 12. JUNI 2011

GLOBUS

Westliche und arabische Medien rufen nach der Einrichtung eines Ad-hoc-Tribunals durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Saudi-Arabien fordert von den USA die Auslieferung seines Staatsbürgers, die Scharia müsse respektiert werden. Das provoziert Proteste in westlichen Nationen. Pakistans Staatschef erklärt, da sich bin Laden auf seinem Territorium aufgehalten hatte, solle Islamabad prüfen dürfen, wie zu verfahren sei. Die USA zeigen sich harthörig. Aufgebrachte Massen in Lahore, Islamabad und Kabul randalieren, es gibt Tote und Verletzte. Die Taliban versenden empörte Kommuniqués gegen die „Entführung des erleuchteten Bruders Osama“ und schwören Rache. Auf den Straßen amerikanischer Großstädte demonstrieren Menschenmassen, darunter Hinterbliebene von Nine-Eleven-Opfern, für einen Prozess in New York.

14 MAI 2011

MADRID/LONDON/DELHI/ISLAMABAD

In Spanien fordern Überlebende der Al- Qaida-Attentate auf Pendlerzüge im März 2004 (191 Tote und 2051 Verletzte) ein Verfahren in Madrid. Opfer des Attentats auf die Londoner U-Bahn vom Juli 2005 (56 Tote, 700 Verletzte) fordern dasselbe für ihr Land. Indien beansprucht Mitsprache beim Verfahren, da man die Weltmacht, Nachbar von Pakistan, nicht übergehen dürfe. Pakistan erklärt den Anspruch für nichtig. Wochenlange Debatten folgen. Dutzende Völkerrechtler profilieren sich mit Positionen zu einem internationalen Bin-Laden-Tribunal.

14. JUNI 2011

WASHINGTON

Unbeirrt erklären die USA, dass sie ein Verfahren nach den Regeln des Militärrechts gegen bin Laden eröffnen werden. Es werde bereits mit Nachdruck an der Einrichtung eines Special US-Military Tribunal for the Trial of Osama bin Laden (SUSMITOBL) gearbeitet. Der Prozess soll in New York stattfinden. Auf die Frage nach dem Grund für Amerikas Entscheidung erklärt eine Sprecherin des Pentagon in Washington: „We got him. We try him.“ Der Ausspruch der Pentagon-Sprecherin wird zum geflügelten Wort, um die typisch kaltschnäuzige Attitüde der Amerikaner zu charakterisieren. Medien, Bloggerszene, Menschenrechtler und Demonstranten kennen kein anderes Thema mehr als den SUSMITOBL, kurz „SUST“ genannt. Die Website von SUST-Watch verzeichnet mehr als 440 000 Clicks pro Tag.

Lesen Sie auf der folgenden Seite: Weltweiter Aufschrei gegen die „eigenmächtigen USA“

18. JUNI 2011

NEW YORK/GLOBUS

Während der weltweite Aufschrei gegen die „eigenmächtigen USA“ anhält, sowie nach Anschlägen in Pakistan und vereitelten Attentatsversuchen von Detroit bis Istanbul, gibt das Pentagon Einzelheiten zur Vorbereitung des Verfahrens bekannt. Zugelassen werden sollen je vier juristische Beobachter aus 60 der Nationen, die von Al-Qaida-Attentaten heimgesucht waren. Muslimische, christliche und hinduistische Richter sollen bestellt werden. Die Suche nach ihnen erweise sich bisher als mühsam. Je ein Dutzend staatlich vereidigter Gerichtsdolmetscher für die Sprachen Dari/Farsi, Pashtu, Urdu, Arabisch, Türkisch, Indonesisch/Malaysisch, Suaheli, Französisch, Spanisch, Deutsch sollen eingestellt werden. Für die vierzig interdisziplinären Ermittlerteams müssen Amtshilfeabkommen des SUSMITOBL mit involvierten Nationen getroffen werden. Ein Zeugenschutzprogramm für voraussichtlich 4660 Zeugen aus 39 oder mehr Nationen wird aufgelegt. Die Vereinten Nationen bedauern offiziell, dass die USA kein Verfahren an einem internationalen Strafgerichtshof anstreben, begrüßen aber „die juristische Sorgfalt“, mit der das SUSMITOBL eingerichtet werde. Kritiker beschimpfen die UN als opportunistisch.

21. JUNI 2011

TUNIS/KAIRO/DAMASKUS/BAGDAD/SANAA/RIAD/TEHERAN

Tunesiens neue Regierung sieht sich übergangen, da der Bombenanschlag vom 11. April 2002 auf die Al-Ghriba-Synagoge in Djerba (19 Tote) ein Akt von Al Qaida war und fordert, mehr Beobachter als andere zum Verfahren zu entsenden. Der Irak und Ägypten machen ähnliche Ansprüche geltend. Demonstrationen in weiten Teilen der arabischen Welt werden alltäglich. Autoritäre Regime feuern Proteste ihrer Bevölkerungen an. Unterstützerkomitees mit Namen wie „Justice for Osama bin Laden” (JOBL) und „Down with the World Police USA!“ sprießen aus dem Boden und sammeln etliche Millionen Dollar.

24. JUNI 2011

WASHINGTON

Pakistans Botschafter verfasst ein gekränktes Schreiben an Präsident Obama, da sein Land im Vorfeld des SUSMITOBL-Prozesses in schlechtes Licht gesetzt werde. Ähnliche Sendschreiben treffen von anderen Diplomaten ein. Ab jetzt geben der US-Präsident und seine Gattin Dutzende diskreter Dinners im Weißen Haus, zu dem die Botschafter der unzufriedensten Staaten jeweils einzeln und persönlich geladen werden: Pakistan, Afghanistan, Jemen, Tunesien, Ägypten, Tansania, Kenia, Indien … die Liste ist lang.

26. JULI 2011

NEW YORK/QUETTA/GENF

Spitzenstrafverteidiger, unter ihnen Jaques Vergès, einst Anwalt von Klaus Barbie und Carlos dem Schakal, bieten bin Laden gratis ihre Dienste an. Der Angeklagte weise alle Anfragen von Verteidigern ab, da er, so ein aufgebrachter Taliban-Sprecher in Quetta, weder das Gericht noch das Verfahren anerkenne. Die Gruppe JOBL deckt auf: In der Küche der Haftanstalt des SUSMITOBL, wo das Essen für den Untersuchungshäftling zubereitet wird, wurde Fleisch von unsachgemäß geschächteten Schafen verarbeitet, das nicht halal im Sinne der Speisevorschriften des Islam ist. Es sei eine Zumutung, dem Angeklagten solches Essen vorzusetzen, erklärt JOBL. „Sie wollen Osama vergiften!“ titelt ein Talibanblatt in Lahore. Wieder entsteht erheblicher Aufruhr. Das Rote Kreuz in Genf fordert, den Angeklagten besuchen zu dürfen. Es erwirkt den Einsatz eines strikt muslimischen Catering-Services.

AUGUST 2011

GLOBUS

Weltweit ebben Proteste und Diskussionen während der Sommerpause des Gerichts ein wenig ab. In Afghanistan und Pakistan werden elf mutmaßliche Kronzeugen ermordet. Ermittler im Feld brauchen permanenten Personenschutz. Für den September wird die Eröffnung des Verfahrens angekündigt.

11. SEPTEMBER 2011

NEW YORK

„Die Stadt gleicht einer Festung“ schreiben hingerissene Reporter. Unter massivsten, das Staatsbudget außergewöhnlich belastenden Sicherheitsvorkehrungen, kommt es zum ersten Auftritt bin Ladens vor Gericht. Mehr als 8000 Reporter aus aller Welt kämpfen um Akkreditierung für einen der 120 Plätze im Saal. Ein Reporter der „Washington Post“ wird von einem rivalisierenden Kollegen tätlich angegriffen und kollabiert. Aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle des Angeklagten sind am SUSMITOBL nur Männer im Saal zugelassen. Weibliche Prozessbeobachter können das Geschehen in einem Nachbargebäude auf Monitoren verfolgen, unter ihnen auch eine afroamerikanische Richterin. Feministische Gruppen liegen im Streit darüber, ob die Maßnahme gerechtfertigt sei. Das Datum der Prozesseröffnung wird von Kritikern als „unnötige Provokation“ angesehen. Einen halben Kilometer breit ist der Sicherheitskordon um das Tribunalgebäude, hunderte Wohnungen werden für zwei Tage evakuiert, Anwohner auf Kosten des Tribunals in Hotels einquartiert. Scharfschützen säumen die Dächer, Hubschrauber kreisen über dem SUSMITOBL, weltweit herrscht ab jetzt erhöhte Alarmbereitschaft auf Flughäfen und Bahnhöfen.

Anderthalb Prozesstage, fast zwölf Stunden, dauert das Verlesen der Anklage gegen den mutmaßlichen Al-Qaida-Kopf. Bin Laden ist hinter der schusssicheren Panzerglasscheibe, die den Gerichtssaal vom Publikum trennt, nur schemenhaft zu erkennen, er scheint zu schlafen oder zu beten. Der Angeklagte erhebt sich nicht, als die Richter den Saal betreten. Er verweigert die Antwort auf die Frage, ob er sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Terrors schuldig bekenne, was der Vorsitzende Richter routinemäßig als „nicht schuldig“ zu Protokoll nehmen lässt. Auf Abermillionen Bildschirmen aller Kontinente laufen stundenlang Zusammenfassungen vom Verlesen der Anklage, das Interesse der meisten Zuschauer erlahmt nach zwanzig bis dreißig Minuten.

SEPTEMBER 2011 – APRIL 2012

GLOBUS

Staatsanwaltliche Ermittler des SUSMITOBL arbeiten global mit hunderten forensischen, kriminologischen, diplomatischen, geheimdienstlichen und anderen Sachverständigen zusammen, um ihre „crime base“ zu vervollständigen. Dolmetscher übersetzen in Tag- und Nachtschichten an die 8 260 000 Seiten Material, Zeugenschützer geraten an den Rand ihrer Kräfte, wenn Zeugen abspringen oder ermordet werden. Mehrfach werden in den USA und in Europa willkürlich nächtliche Spaziergänger gekidnappt, um bin Laden freizupressen, die „New York Times“ prägt den Begriff der „Prozessgeisel“. Im Pentagon heißt es kategorisch: „Der Staat lässt sich nicht erpressen.“

Lesen Sie auf der folgenden Seite: Der Prozess beginnt

16. APRIL 2012

NEW YORK

Wieder wird New York zur Festung: Der offizielle Prozessbeginn ist da. Dem Angeklagten wurde inzwischen ein hochkarätiges Team von Pflichtverteidigern zugesellt, mit dem er jede Kommunikation verweigert. Unter ihnen ist der Strafrechtler und Princeton-Absolvent Dr. Mansour Habibi, Spezialgebiet forensische Psychiatrie. Dieser beantragt sofort, das Verfahren fallen zu lassen, da der Anklagte aufgrund schwerer Traumatisierung in der Kindheit unzurechnungsfähig sei. „Herr bin Laden wuchs als eines von fünfzig Kindern seines Vaters heran“, führt Habibi aus. „Der kleine Osama konnte nie eine realistische Beziehung zu seinem Vater etablieren. So entwickelte er ein pathologisches Verhältnis zu einer von ihm als ,Allah’ bezeichneten Fantasie, diese Fantasie ist außer Kontrolle geraten und zu einer wahnhaften Ideologie mutiert.“ Anhand von Reden des Angeklagten belegt Habibi den Realitätsverlust des Angeklagten. Dessen Reaktion ist verächtliches Schnauben. Prozessbeobachter, Journalisten und Diplomaten tuscheln im Saal. Die SUSMITOBL-Richter müssen über den Antrag beraten. Das Gericht vertagt sich auf den 30. Mai 2012.

4., 5. UND 11. MAI 2012

GLOBUS

In Reykjavik, Budapest, Itzehoe und Harare werden US-Touristen als Prozessgeiseln gekidnappt. Sie kommen in allen Fällen frei, in Harare gleichwohl nicht ohne Verluste.

30. MAI 2012

NEW YORK

Gefragt, ob er eine Stellungnahme zum Antrag seines Pflichtverteidigers abgeben wolle, zieht bin Laden, traditionell gekleidet, bärtig und gut genährt wirkend, das Mikrofon näher zu sich, holt ein Buch hervor und spricht mit behäbiger Gelassenheit die Formel zur Eröffnung einer Koranlesung: „bismi-llyhi r-rahmyni r-rahym …“. Vier Dutzend Dolmetscher übersetzen. Der Angeklagte beginnt nun, mithilfe von Lesezeichen einzelne Suren vorzutragen und wird nach drei Minuten vom Richter unterbrochen. „Wollen Sie sich zur Sache äußern?“ Ohne auf den Richter zu achten, liest der Angeklagte weiter. Sein Mikrofon wird abgeschaltet. Mehrere Beobachter werfen ihre Kopfhörer auf die Sessel und verlassen erzürnt den Saal. Fieberhaft schreiben Journalisten in ihre Notizblöcke: Zum ersten Mal ist etwas los! Wenige Minuten später ziehen sich die Richter zur Beratung zurück und vertagen auf den 12. Juni 2012.

1. – 12. JUNI 2012

GLOBUS

In der westlichen Welt sind Psychologen, die sich auf frühkindlichen Vaterverlust spezialisiert haben, gefragte Interviewpartner. Spekuliert wird über die Unfähigkeit des jungen Osama, an seinen Vater zu glauben. Seinen Unglauben habe er, erklärt ein französischer Psychiater in „Le Monde“, „als Hass auf die Ungläubigen“ auf andere projiziert. Radikalislamische Gruppen empören sich über westliches Psychogerede. Dr. Mansour Habibi steht jetzt, wie die Richter und Staatsanwälte des SUSMITOBL, unter 24-stündigem Polizeischutz.

12. – 14. JUNI 2012

NEW YORK

Mehrheitlich haben die Richter das Ansinnen des Pflichtverteidigers verworfen, bin Laden für unzurechnungsfähig zu erklären. Der chinesisch-amerikanische Chefankläger stellt den ersten Zeugen vor, ein anonym aussagendes, ehemaliges Mitglied von Al Qaida. Die Befragung findet unter Ausschluss des Publikums statt und dauert drei Prozesstage, an denen Reporter, da am Gericht nichts zu holen ist, die Hotels arabischer Prozessbeobachter belagern, um wenigstens ein paar O-Töne zu ergattern. Auf allen Sendern wird diskutiert, ob der Ausschluss der Öffentlichkeit gerechtfertigt sei, obgleich er an UN-Tribunalen in solchen Fällen üblich ist.

SOMMER 2012

GLOBUS

Auf Blogs kursieren Verschwörungstheorien aller Art zum SUSMITOBL, Zeitungen und Fernsehsender kommentieren die Blogger, Blogger die Zeitungen und Fernsehsender. JOBL gibt täglich Stellungnahmen zum SUSMITOBL ab. Zeitungen richten Kolumnen zum SUSMITOBL ein.

2. JUNI 2012

NEW YORK

5. Prozesstag. Der Angeklagte ist unpässlich, wird ärztlich betreut und bleibt auf seiner Zelle. Den gesamten Vormittag über beantragt der Chefankläger die Zulassung neuer Beweismittel. Nach der Mittagspause sind zwei Paschtu-Simultandolmetscher aus ihren Kabinen verschwunden, der Prozess kann daher nicht fortgesetzt werden. Helle Aufregung. Am Abend werden die beiden Dolmetscher von einer aufmerksamen Journalistin in einem Lokal auf Coney Island beim Krabbenessen gesichtet. Anderntags stellt sich heraus, dass die Arbeitspläne der beiden Dolmetscher von der Administration des SUSMITOBL versehentlich fehlerhaft ausgefüllt worden waren und sie davon ausgegangen waren, dass sie am Nachmittag dienstfrei hätten.

8. JUNI 2012

PARIS

Eine Bombe explodiert in der Nähe des Gare du Nord, ein „Kommando Ehre des Osama“ bekennt sich zu der Tat und kündigt für die kommende Woche Attentate in New York an. In Paris kommt niemand zu Tode, es gibt nur vier Leichtverletzte. Doch in New York wird der Prozess aus Sicherheitsgründen ausgesetzt, bis über neue Maßnahmen entschieden wurde.

13. JULI 2012

NEW YORK

6. Prozesstag. Ehe der Chefankläger den nächsten Zeugen vorführen kann, kündigen die Dolmetscher am SUSMITOBL einen Streik wegen Überbelastung an, zugleich fordern sie in einem Flugblatt zehn Prozent mehr Lohn. „Werden Sprachmittler am SUSMITOBL unmenschlich ausgebeutet?“ fragen die Medien und interviewen Burn-out-Experten. Indes naht die Sommerpause des Gerichts.

1. BIS 30. AUGUST 2012

NEW YORK

Die Sommerpause des Gerichts fällt günstig mit dem Ramadan zusammen, was die Arbeitsplanung erleichtert. Das Gericht bleibt geschlossen. Im Herbst geht es mit weiteren Zeugen voran, die meisten werden aus Sicherheitsgründen unter Ausschluss der Öffentlichkeit angehört.

ENDE 2012 – ENDE 2015

NEW YORK

Hunderte Zeugen wurden am SUSMITOBL gehört, ohne dass die Staatsanwälte ein „smoking gun“ hätten nachweisen können, eine direkte Befehlskette von Osama bin Laden zu den Attentätern lässt sich kaum etablieren. Der Angeklagte ist 2013 und 2014 überhaupt nicht vor Gericht erschienen, seine Zwangsvorführung wurde ausgeschlossen. Er spielt inzwischen Schach mit anderen inhaftierten mutmaßlichen Terroristen, seine anstaltsinternen Koranlesungen sind beliebt. Im Mittleren Osten ist man zurückgekehrt zum Interesse an politischen Reformen, die Obamas haben ihre Diplomacy-Dinners fast völlig einstellen können, Pakistan erhält verdreifachte US-Entwicklungshilfe.

Lesen Sie auf der folgenden Seite: Desinteresse der Medien

16. NOVEMBER 2015

NEW YORK

Bin Laden erscheint für zehn Minuten zu einer Zeugenbefragung, und lässt sich wieder herausgeleiten. Immer weniger Medien interessieren sich für das SUSMITOBL. Frustrierte Journalisten, die sich in tausende Seiten von Prozessprotokollen eingelesen haben, werden ihre Berichte nicht mehr los. JOBL und sogar das „Kommando Ehre des Osama“ finden weniger Sponsoren. Amerikas Bund der Steuerzahler beschwert sich über die 24, 8 Milliarden Dollar, die in Ermittlungen, Zeugenschutzprogramme, Gutachter, Pflichtverteidiger, Dienstreisen aller Beteiligten sowie Sicherheitsmaßnahmen geflossen sind, ohne dass bisher ein systematischer Aufbau von Al Qaida unter der Führung bin Ladens nachgewiesen werden konnte.

20. DEZEMBER 2015

GLOBUS

Medien außerhalb der USA beachten den Prozess, der nun 343 Verhandlungstage zählt, kaum noch. „Außer Indizien nichts gewesen?“ empört sich ein renommierter amerikanischer Strafrechtler nach dem anderen in Interviews mit Sendern wie Fox News Channel, CNBC, CNN und BBC World. Es mehren sich die provokanten Stimmen, statt des teuren SUSMITOBL lieber kurzen Prozess zu machen, und den Angeklagten hinrichten zu lassen. Und das kurz vor Weihnachten! Erneut erwacht die Weltpresse. Typische Schlagzeilen zwischen Kapstadt und Stockholm, Malaysia und Marokko: „Barbarisch: USA erwägen Liquidation bin Ladens ohne Urteil!“ In den Redaktionen kramt man die Telefonnummern jener Strafrechtsexperten und Menschenrechtler wieder hervor, die zu Beginn des Verfahrens so hilfreich gewesen waren.

24. UND 24. DEZEMBER 2015

GLOBUS

Durch die Weihnachtsfeiertage und einen strengen Winter auf der Nordhalbkugel gerät das Verfahren am SUSMITOBL gleichwohl im Norden wieder in Vergessenheit. Die Südhalbkugel ist elektrisiert von einer revolutionären Speichermethode für regenerative Energie wie Solarstrom und Fotovoltaik, mit der sich Millionen machen lassen. Das panarabische Konsortium „Muslim Social Technology“, das die Speicher entwickelt hat, beteiligt sämtliche Länder der Region am sagenhaften Erlös. Ungeahnter wirtschaftlicher Fortschritt wird möglich. An den Börsen setzt ein Boom ein, das Thema Osama bin Laden verblasst.

2. MAI 2016

GLOBUS

Weltweit erinnern Kalenderdienste die Redaktionen daran, dass es fünf Jahre her ist, „ein halbes Jahrzehnt schon“, seit Osama bin Laden gefasst wurde. „Wer war noch mal bin Laden?“ überschreibt die New York Times eine Glosse ihres Chefkolumnisten. Chronologien des Prozesses werden veröffentlicht, die zusammenzustellen Nachrichtenagenturen mehrere Wochen brauchen. Eine Umfrage unter Jugendlichen an Colleges zwischen Ost- und Westküste ergibt: Nur drei Prozent von ihnen wissen das Akronym „SUSMITOBL“ korrekt zu entschlüsseln. Kommentatoren sprechen vom Skandal einer geschichtsvergessenen, entpolitisierten Jugend. Bin Laden selber, noch immer Untersuchungshäftling, hat inzwischen in der Haft vier Räume zur Verfügung, ein Akten- und Arbeitszimmer, eine gemütliche Gebetsecke, einen Besucherraum und ein Schlaf- und Fernsehzimmer mit arabischsprachigen Kanälen. Der Angeklagte klagt nicht, muslimische und lutheranische Sozialarbeiter bereiten ihn behutsam auf ein Leben in Freiheit vor, das so unwahrscheinlich nicht mehr ist. Pflichtverteidiger Dr. Habibi hat inzwischen den Job quittiert und mit dem Roman „The Trauma of the Terrorist“ einen Bestseller gelandet, aus dem unter Mithilfe ausgestiegener Taliban ein Drehbuch für Hollywood und ein weiteres für Bollywood wird.

15. JUNI 2016

USA/INDIEN

Beide Regisseure von „The Trauma of the Terrorist“, der indische wie der amerikanische, konkurrieren miteinander wie die Gockel, sie gemeinsam in eine Talkshow zu bekommen, ist Ziel der Fernsehsender weltweit. Vanity Fair gelingt ein sensationelles Streitgespräch mit den Filmkünstlern.

Unterdessen haben sich zahlreiche Therapeuten in New York und anderen Regionen der USA auf die sogenannten „SUSMITOBL-Traumatisierten“ spezialisiert, es handelt sich vor allem um jetzige wie ehemalige Mitarbeiter des Gerichtshofes sowie Hinterbliebene der Anschläge des 11. September 2001. „Eine Tragödie, was mit diesen Menschen passiert“, seufzt eine Ärztin auf National Public Radio.

11. SEPTEMBER 2016

NEW YORK

Durch einen Lapsus der Wachleute gelingt es bin Ladens Sozialarbeitern, den körperlich enorm fitten Angeklagten in einem Wäschereilieferwagen aus der SUSMITOBL- Haftanstalt in die Freiheit zu schmuggeln. Auf noch nicht nachvollzogenen Umwegen gelangt er, rasiert und mit falschem Pass, zu den Seinen in einem Vorort von Kandahar, wo er zur lokalen Legende geworden sein soll. Seither läuft die Rekrutierung neuer Taliban. „Wir sind gesegnet!“ rufen die Attentäter auf ihren Abschiedsvideos. „Gesegnet von Osama!“ Gerüchte machen die Runde, eine Sondereinheit der Navy-Seals sei darauf angesetzt, den Entflohenen, „dead or alive“ zu fassen.

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