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Reichweite seiner Reden. Lafontaine testet bisweilen seine Zuhörer. Können die ihm folgen? Werden sie das tun? Mit guten Worten wollte er die Linke erobern, aber die erwies sich in Teilen als wenig verführbar.

© dpa

Oskar Lafontaine: Das letzte Experiment

Die SPD hat er wieder an die Macht gebracht – und dann verlassen. Die Linkspartei hat er in die Parlamente gebracht – jetzt hat sie ihn stehen gelassen. Oskar Lafontaine wollte nie nur groß im Unvollendeten sein. Dieses Mal hat er sich offenbar verkalkuliert.

Sein Schreibtisch ist leer. Er war es eigentlich immer, bis auf ein, zwei Bücher vielleicht, die er gerade liest oder zum Lesen empfehlen will. In der Partei haben sie das vor kurzem erst wieder erzählt, oder eher gewispert, hinter seinem Rücken. Ins Gesicht sagt es ihm keiner so gern, was sie damit eigentlich sagen wollten: Ist das deine Art Arbeit? Seine Kritiker fürchten ihn, das wird jetzt nicht anders sein als früher. Sie fürchten seinen scharfen Spott, wie sie ja auch immer wieder seinen scharfen Verstand bewundert haben. Und hat er nicht recht, lässt sich der richtige gedankliche und politische Kurs an Aktenstapeln, oft ungelesenen, messen?

Oskar Lafontaine hat für solche Überlegungen nicht einmal Mitleid. Er hat doch die wichtigsten Zahlen alle im Kopf. Da soll ihn keiner herausfordern, dann prasseln sie, ob zum Bruttosozialprodukt oder zur Weltwirtschaft, zu Steuern und Abgaben im OECD-Vergleich, zu Löhnen und Gehältern und ihrer Entwicklung innerhalb der vergangenen . . . Wer wollte, wer könnte da so schnell kontern? Und wer kann dazu noch mal eben Goethe zitieren, um zu sagen, wie recht Marx und Engels und Wagenknecht haben? „Was ihr den Geist der Zeiten heißt / Das ist im Grund der Herren eigner Geist / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Faustisch ist der Spaß, wenn er dazu setzt, was Marx und Engels schrieben: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

Die Karriere von Oskar Lafontaine in Bildern

Die letzten drei Worte hallen nach. Herrschende geistige Macht – das klingt wie ein Motto für diesen Mann. Er hat Wissen und beansprucht Macht. Ja, ist das nicht verständlich? Weil er mehr weiß, will er mehr zu sagen haben, so einfach ist das; und wer das nicht versteht, wie soll er den ernst nehmen? Lafontaine ist klug genug, das nicht zu sagen. Er sieht nur so aus, als würde er es tun. Sein Gesicht nimmt dann diesen napoleonischen Ausdruck an. Der wird nur bisweilen gebrochen durch ein Lachen, mehr ein Glucksen, das ihn weniger herrisch als in dem Moment menschlich wirken lässt: Ist seine Nase nicht wie auf den Karikaturen herrlich spitz?

Von Zeit zu Zeit testet Lafontaine, ob die Menschen, die er vor sich hat, ob einzelne oder viele, ihm auch noch folgen können. Daraus schließt er, der studierte Physiker, dann, ob sie ihm auch folgen werden. Denn eines bedingt für ihn das andere. Er ist auch alt genug, bald 69, und erfahren genug, hier keine Experimente mehr machen zu müssen, sondern intellektuelle Versuchsanordnungen aufzubauen, wie er das schon hundertfach getan hat: Wer ihm in seinen Annahmen folgt, der folgt seinen Ableitungen. Oder in den Verirrungen, gleichviel. So sammelt er Menschen, Wähler, Jünger. Es sind Gescheite und Gescheiterte darunter, manchmal sind sie beides zugleich. Einige sind jetzt wieder zu hören, da der Oskar sich verirrt, ganz sicher aber verschätzt haben könnte. Und das in seinem Element: im Machtkampf.

Der Traum von einer vereinigten, starken Linken

Vor einigen Jahren hatte er einen Traum. Er wollte eine starke, eine vereinigte, eine wiedervereinigte Linke schaffen. Was für ein Experiment! Seine Berechnung war, das zunächst über eine Abspaltung und dann eine spätere Zusammenführung zu erreichen. Die SPD, die er einmal geführt hatte, der er seit 1966 angehört hatte, hatte doch ihn verlassen. Aber weil er zugleich dachte, dass sie von allen guten Geistern verlassen sei, machte er sich daran, die westdeutsche WASG mit der ostdeutschen PDS zu verbinden. Nicht er allein, aber allein er hatte diese Begabung, sowohl Hammer als auch Amboss und, wenn es Not tat, auch Sichel zu sein. Diese Linke sollte die Republik treiben, dabei Volkes Stimmen gewinnen und die SPD zu linker Politik zurückbringen. Weil sonst die Linke ihre Positionen und Wähler immer mehr übernehmen würde. Die Vereinigung wäre, so oder so, eine logische Konsequenz gewesen. Ist das verständlich?

Es ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund seiner Geschichte. Lafontaine hat eine große Karriere hinter sich. Er war schon als junger Mann in Ämtern, in denen er Führung erproben konnte, als Oberbürgermeister, als Ministerpräsident, und das viele Jahre lang, neun Jahre als OB, 13 Jahre als MP. Er war SPD-Vize und Vorsitzender und in der Regierung Schatzkanzler. Er hat die SPD mit einer einzigen Rede („Es gibt einen Politikentwurf, für den wir uns begeistern können“) zu einer parteiinternen Revolution verführt, damals, 1995, in Mannheim gegen Rudolf Scharping. Wie er überhaupt inhaltlich immer hervorstechende Positionen bezogen hat; Positionen, die erst Jahre später erreichbar erschienen, oder die anderen als Grund für eine frühe Ablehnung auch seiner Person reichten. Oskar Lafontaine, über den Wolfgang Schäuble einmal sagte: „Denken kann er, er denkt nur meistens das Falsche.“

Aber eben nicht immer. Hier sind Gedanken, die ihn seit Jugendtagen im bischöflichen Konvikt beherrschen: „In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigentumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum – so können wir es schon im Alten Testament nachlesen – erfand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jahren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem beginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Einheit aufzufassen.“ Von allen guten Geistern ist er nicht verlassen.

In der westdeutschen Politik unvergessen ist sein Streit mit Helmut Schmidt über die Nato-Nachrüstung und darüber, ob Lafontaine ihm Eigenschaften unterstellt hatte, mit denen Schmidt „ein KZ betreiben“ könne. Lafontaine fand sich falsch zitiert, Schmidt sich zutiefst falsch charakterisiert. Das Widersprüchliche ist geblieben. Aber auch das Erstaunliche. Lafontaine war es, der Ende der 80er Jahre die SPD auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft verpflichtete, auf die ökologische Modernisierung der Wirtschaft und eine Strukturreform der sozialen Sicherungssysteme. Und er war es, der auch für Arbeitszeitverkürzungen ohne vollen Lohnausgleich eintrat, was ihn in Gegensatz zu den Gewerkschaften brachte. Der Linke als „Modernisierer“, der Lieblings-„Enkel“ von Willy Brandt auf einer Linie mit Helmut Schmidt.

Lafontaines Geschichte ist auch die des Mauerfalls

Lafontaines Geschichte ist aber auch die des Mauerfalls. Er war seinerzeit Kanzlerkandidat und wurde zweifach Opfer. Lebensgefährlich niedergestochen von einer geistig Verwirrten im Wahlkampf in Köln, wollte er aufgeben – aber die Partei ließ ihn nicht. Das ist ihm bis heute unverständlich. Sie ließ ihn aber zugleich auch mit seinem Wahlkampf allein, und dadurch wurde er Opfer der Umstände: Er wurde nicht verstanden.

Das ist seine Geschichte: Lafontaine war nicht gegen die staatliche Einheit, aber ihr sollte die soziale Angleichung der Lebensverhältnisse vorausgehen. Es sollte keine „Wiedervereinigung“ sein, um nicht Vorbehalte gegen deutsche Überlegenheit in aller Welt zu wecken, sondern eine Vereinigung im Rahmen der europäischen Integration, zunächst über eine Konföderation. Da war er anfangs auf einer Linie mit Helmut Kohl. Und in der Ablehnung einer schnellen Wirtschafts- und Währungsunion befand er sich auf einer mit vielen Experten, darunter nicht zuletzt Helmut Schmidt. Lafontaine hatte Einvernehmen in der SPD darüber zur Bedingung für seine Kanzlerkandidatur gemacht. Aber die Wahl 1990 verlor er. Und fand sich allein gelassen. Danach lehnte er zum zweiten Mal das ihm angetragene Amt des SPD-Chefs ab.

Groß nur im Unvollendeten hat er dann doch nicht bleiben wollen. Die Blockade, die der Politik und die seiner selbst, sollte ein besseres Ende haben. Denn hatte er nicht andererseits immer recht behalten, mit den vorhergesagten Kosten der deutschen Einheit, mit den sicherheitspolitischen Notwendigkeiten, mit den finanzpolitischen Unverträglichkeiten? Alles nachzulesen in den Büchern, die er selbst geschrieben hat. In denen hat er dann auch die Bedingungen beschrieben, unter denen die Linke regieren kann, seine Linke, wie er sie versteht. Die SPD hat er so an die Macht gebracht und die neue alte Linke, die auf seltsam rückbezügliche Weise eine Art Konföderation aus West und Ost ist, in die Parlamente. Nur dass es die Gewesenen der DDR geworden sind, mit denen Lafontaine sich zusammengetan hat, nicht die Bürgerrechtler, deren Sache er vor 22 Jahren mit vertrat, als er der bewusst andere Saarländer war, der Oskar, nicht Erich.

Wahrscheinlich hat er sich das so vorgestellt: Eine Idee, kraftvoll vorgetragen, alle verstehen, was er sagen will, und sie erheben ihn noch einmal. . . Doch sein Machteros reichte diesmal nicht.

Was bleibt? Das Bild von Oskar Lafontaine mit Sahra Wagenknecht, Hand an Hand. Und noch ein Bild: 1999, auf dem Balkon, mit seinem Sohn auf den Schultern, nachdem er Ministerposten und Parteivorsitz aufgegeben hat. Das also bleibt: Die Erinnerung daran, dass er alles gewinnen und von einem auf den anderen Tag alles weggeben kann.

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