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"Ossi-Urteil": Wir sind ein Volk

Die Ostdeutschen sind laut einem Urteil vom Donnerstag kein Volk für sich. Das Stuttgarter Arbeitsgericht musste darüber entscheiden, weil eine schwäbische Firma die Bewerbung einer gebürtigen Ost-Berlinerin abgelehnt hatte. Wie argumentiert der Richter?

Das Deutsch-Deutsche ist Vergangenheit, aber noch lange nicht vorbei. Ein Beleg dafür ist die Aufmerksamkeit für einen an sich nicht sehr bedeutenden Rechtsstreit in Stuttgart. Im Schwäbischen lebt Gabriele S., eine „Ossi“ aus Berlin-Lichtenberg, die 1988 aus der DDR ausreiste und in den anderen Teil Deutschlands wechselte. Dort hatte die 48-Jährige sich im vergangenen Sommer bei einem Unternehmen beworben, auf eine Stelle als Bilanzbuchhalterin; erfolglos, und als sie ihre Unterlagen zurückbekam, fand sie da notiert: „(-) Ossi“. Ein Minus-Ossi? Sie wollte Schadenersatz nach dem Gleichbehandlungsgesetz.

Das Gericht hatte durchaus ernsthaft angekündigt zu diskutieren, ob der Ossi eine diskriminierungsfähige Ethnie ist. Nur dann kann es Geld geben. Ein Volksstamm. Eine Kultur- und Traditionsgemeinschaft mit eigenen Herkunftssagen. Eine sich selbst definierende und von außen definierte Gruppe. So sehen Völkerkundler eine Ethnie.

Ist der Ostdeutsche eine Ethnie? Hinter dieser scheinbar banalen Frage stecken Probleme, über die man sich seriös den Kopf zerbrechen kann. Weshalb der Prozess allerdings eine gewaltige Medienwelle schlug, dürfte andere Gründe haben. Ist „Ossi“ im Jahr 20 des Mauerfalls eine taugliche Beleidigung? War „Ossi“ das je? Oder ist der „Ossi“ Ausdruck vitaler Selbstbehauptung von Menschen, die mehr sein wollen als die Bevölkerung eines Beitrittsgebiets?

Um Deutschland und seine Wiedervereinigung und die großen politischen Fragen aber ging es am Donnerstag vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht nicht. Es ging um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, dessen Paragraf eins lautet: „Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

In einem weiteren Paragrafen gibt es Entschädigungsansprüche, wenn gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen wird. Es war ein umstrittenes Gesetz, gefürchtet von Arbeitgebern und ihren Verbänden. Gewollt hatte es die EU, es gibt eine Richtlinie dazu. Die Skepsis erwies sich weitestgehend als übertrieben. Die Klage-Tsunamis blieben aus. Stattdessen gibt es gelegentlich einen skurril anmutenden Fall wie diesen.

Es wurde diskutiert im Gerichtssaal, nur kurz, aber heftig. Der Unternehmer, ein Fensterbauer, jammerte über den Medienansturm. Die Auftragslage sei eingebrochen, er werde bedrängt und belästigt als einer, der Ossis fortjagt. „Ich bin es, der hier diskriminiert wird“, sagte er. Dabei habe die Bewerberin fachlich nicht mithalten können, das Klammer-Minus diente der Aussortierung. Der Zusatz „Ossi“ sei positiv gewesen, man habe beste Erfahrungen mit Kollegen aus dem Osten. Aber seine Mandantin sei nun mal abgelehnt worden, nur weil sie Ossi sei, sagte der Anwalt der Klägerin, Wolfgang Nau. Sie selbst blieb dem Prozess lieber fern. Eigentlich wollte sie kommen. Am Morgen hatte sie sich umentschieden.

Wenn der „Ossi“ nicht abwertend gemeint war, so kam er doch abwertend an. Das machte auch Richter Reinhard Ens deutlich, als er bei der Urteilsbegründung meinte, „Ossi“ könne durchaus eine Diskriminierung darstellen. Aber eine wegen „ethnischer Herkunft“?

Tatsächlich entwickeln sich die Gleichheits- und Menschenrechte hin zu einer offeneren Begrifflichkeit. Die EU-Grundrechtecharta will auch Diskriminierungen wegen „sozialer“ Herkunft vermeiden, das Grundgesetz spricht schlicht von „Herkunft“. Das deutsche Betriebsverfassungsgesetz will auch Nachteile wegen „sonstiger Herkunft“ vermeiden.

Der Anwalt des schwäbischen Fensterbauers heißt Wolf Reuter, er arbeitet in Berlin und berichtet von Reinickendorfern und Steglitzern, die ebenfalls so viel trenne wie Ossis und Wessis. Das AGG sei nicht für so etwas geschaffen. „Am Ende müsste man Ostdeutschen danach auch Asyl gewähren, wenn sie behaupten, politisch verfolgt zu werden“, sagte er. Der Gesetzgeber habe sich bewusst dafür entschieden, Ersatzansprüche auf Benachteiligungen wegen „ethnischer Herkunft“ zu begrenzen, nicht wegen „regionaler Herkunft“.

Richter Ens tat in dieser Situation das einzig Richtige: Er bekniete den Fensterbauer, statt der geforderten 5000 Euro wenigstens einen kleineren Betrag auf den Tisch zu legen, damit der Streit ein Ende habe. Aber der wollte nicht. Er wollte den Fall gewinnen. Längst hatte sich der schwäbische Unternehmer, er wird dieses Jahr 70 („Ich arbeite immer noch!“), selbst in die Ossi-Frage verbohrt.

Über das Ossi-Problem werden sich Völkerkundler und Juristen gleichermaßen beugen, vielleicht irgendwann auch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Soziologen, Historiker und natürlich Politiker. Der Streit wird durch die Instanzen getragen werden, es kann bis zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg gehen. So ist sie, unsere gemeinsame Ethnie: Frieden ist so leicht zu haben, doch fällt er ihr immer wieder schwer. Vor allem vor Gericht.

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