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Ost-Kongo: Die Heimkehr der Mörder

Einer ist desertiert. Andere folgen. Sie wollen nicht länger in einem sinnlosen Krieg mitmachen. Es könnte das Ende des langen Leidens im Ost-Kongo bedeuten.

Als Pascal Ntakirutimana nicht mehr töten will, geht er auf den Markt. Er lässt sein Gewehr im Lager stehen und ruft seinen Kameraden zu, dass er etwas Gemüse besorge. Auf dem Rückweg macht er sich davon. Er beginnt zu rennen, bekommt Panik, er ist jetzt ein Deserteur und wenn man ihn entdeckt, wird man ihm die Kehle aufschneiden. Endlich, nach zweistündigem Kraftmarsch durch den kongolesischen Busch, erreicht Pascal einen Stützpunkt der Vereinten Nationen. Blauhelm-Soldaten bringen ihn über die Grenze nach Ruanda, seine Heimat.

Pascals Flucht ist jetzt drei Wochen her, seitdem lebt er im Demobilisierungscamp Mutobo. Hier soll aus dem Buschsoldaten wieder ein ruandischer Bürger, aus einem Mörder wieder ein anständiger Mensch werden. „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagt Pascal Ntakirutimana.

Das Demobilization and Reintegration Centre Mutobo besteht aus einem Dutzend Wellblechhallen inmitten eines idyllischen, von Flüssen durchzogenen Tals. Zäune gibt es nicht, die Ex-Kämpfer sollen sich nicht als Gefangene fühlen. Und die Botschaft nach draußen, an die Bauern und Teepflückerinnen im Tal lautet: Vor diesen Männern muss niemand mehr Angst haben. Der Horror findet anderswo statt.

Nur ein paar Kilometer vom Camp entfernt ragen mächtige Vulkane auf. Sie bilden das 4500 Meter hohe Virunga-Massiv, das die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo markiert. Dort, auf der anderen Seite der Berge, tobt – von den westlichen Medien größtenteils ignoriert – der schwerste militärische Konflikt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 5,3 Millionen Menschen sind dort in den vergangenen 15 Jahren getötet worden, zwei Millionen befinden sich auf der Flucht. Als „one of the worst places to live“ hat die „New York Times“ den Ost-Kongo beschrieben.

Allerdings, und hiervon handelt diese Geschichte, könnte sich das jetzt bessern. Ein Symptom dafür ist Pascals Rückkehr nach Ruanda. Zehn Jahre lang kämpfte er im Ost-Kongo in den Reihen der berüchtigten FDLR-Miliz, er bediente ein schweres Maschinengewehr, raubte und mordete. „Es gibt viele Menschen, die ich um Vergebung bitten müsste“, sagt Pascal. Der 35-Jährige spricht leise, aber er blickt einem fest in die Augen. Als er seine Baseballkappe abnimmt, kommt eine helle Narbe zum Vorschein. Eine Gewehrkugel streifte Pascals Schädel. Er sei hier, sagt er, weil er „die vielen schlechten Dinge“, die er gemacht habe, hinter sich lassen wolle. Dabei hilft ihm – so erstaunlich es klingen mag – die ruandische Regierung, gegen die Pascal bis vor wenigen Wochen noch Krieg führte. Es ist ein ehrgeiziges Experiment, aber es scheint zu funktionieren.

Pascal hockt in einer zugigen Halle, der Boden besteht aus blanker Erde. Vorne gibt es ein Podest und einen Fernseher. An den Wänden hängen Plakate des Roten Kreuzes: darauf Fotos von Kindern, die ihre Eltern in den Kriegswirren verloren haben. Um Pascal herum sitzen 30 ehemalige Buschkrieger. Sie warten darauf, dass der Unterricht beginnt, oder wenn man so will: die Umerziehung. Drei Monate lang müssen sie sich hier Vorträge über das neue Ruanda anhören. Sie sollen den Frieden lernen, nachdem die Hälfte ihres Lebens aus Krieg bestanden hat.

Fast alle der Männer kämpften in der FDLR. Die Miliz marodiert seit mehr als einem Jahrzehnt durch den Kongo und besteht aus Ruandern, die zur Volksgruppe der Hutus gehören. Ihr Ziel ist der Sturz des ruandischen Präsidenten Paul Kagame im Nachbarland. Denn Kagame ist ein Tutsi und er versklavt und tötet alle Hutus – so behauptet es zumindest die FDLR. „Unsere Kommandanten sagten, wir könnten einzig als siegreiche Kämpfer nach Ruanda zurückkehren“, berichtet Pascal.

Die Chancen dazu stehen allerdings schlecht. Paul Kagame treibt in Ruanda eine wirtschaftliche und soziale Modernisierung voran, die in Afrika ihresgleichen sucht. Trotz seines autoritären Führungsstils wird er international geschätzt, insbesondere die USA stützen ihn. Und so hat sich die FDLR im Kongo einem einträglicheren Geschäft zugewandt. Sie kontrolliert einen Teil der Coltan-Minen. Das Erz wird zur Herstellung von Handys, Digitalkameras und Laptops benötigt, ein Drittel der weltweiten Reserven vermutet man im Kongo.

Auch das ist ein Grund, warum die FDLR sich so lange halten konnte – und nun verstärkt von kongolesischen Truppen angegriffen wird. Westliche Firmen kollaborieren mit den Konfliktparteien und verlängern so den Krieg. Zwischen den Fronten vermitteln 20 000 UN-Blauhelme, agieren aber vor allem hilflos. Die Massenvergewaltigung von 500 Frauen Ende vergangenen Jahres durch FDLR-Kämpfer konnten sie ebenso wenig verhindern wie die regelmäßigen Plünderungen und Massaker. „Es ist so sinnlos, was ich im Kongo getan habe“, sagt Pascal.

Um die Sinnlosigkeit im Leben von Pascal Ntakirutimana und das Elend im Ost-Kongo zu verstehen, muss man 17 Jahre zurückgehen. Am Anfang der zentralafrikanischen Tragödie stand der ruandische Genozid. Am 6. April 1994 ordnete die Hutu-Regierung Ruandas an, dass die Minderheit der Tutsis auszurotten sei. Die „Kakerlaken“ sollten „zertreten“ und die „Gräber bis zum Rand gefüllt“ werden. Selbst als die Mordmaschinerie schon in vollem Gange war, verharrte die internationale Gemeinschaft noch in der passiven Logik ihrer Friedensmissionen. Man wollte nichts hören, nichts sehen und schon gar nicht eingreifen. Eine Millionen Menschen wurden getötet, und es wären weitaus mehr geworden, wenn nicht die tutsi-dominierte Rebellenarmee Rwandan Pariotic Front (RPF) das Morden nach 100 Tagen beendet hätte.

Nun fürchteten die ruandischen Hutus zurecht die Vergeltung der RPF, und im Juni 1994 setzte sich der größte Flüchtlingstreck in Bewegung, der je in der Menschheitsgeschichte registriert wurde. Darunter war auch Pascal. „Man prophezeite uns, dass die Tutsis alle Hutus töten würden“, sagt er. Und warum hätte er, nach allem, was geschehen war, etwas anderes glauben sollen?

Mehr als zwei Millionen Hutus, darunter die Mörder und Organisatoren des Völkermords, flohen unter dem Schutz französischer Soldaten in den Kongo, der damals noch Zaire hieß. Flüchtlingslager von apokalyptischen Ausmaßen entstanden rund um die Grenzstadt Goma. Sie wurden von internationalen Hilfsorganisationen versorgt, denen die Bilder des Elends üppige Spendengelder garantierten. Aber während die Opfer des Genozids in Ruanda immer noch alleine gelassen wurden, organisierten sich die rassistischen Hutu-Milizen in den Lagern neu. Ihr Ziel: die Vollendung des Genozids.

Als die Milizen kurz darauf begannen, Tutsis in Zaire zu ermorden und nach Ruanda vorzustoßen, antwortete die neue ruandische Regierung, indem sie ihre Armee, nun RPA genannt, nach Zaire schickte. Dort tötete die RPA Hunderttausende Hutu-Flüchtlinge. Zaires Diktator Mobutu Sésé Seko protestierte gegen diese Einmischung aus dem winzigen Nachbarland, hatte aber im entlegenen Osten seines Riesenreichs keinerlei Handhabe. Schließlich marschierte die RPA gemeinsam mit ugandischen Truppen und kongolesischen Tutsi-Rebellen auf die Hauptstadt Kinshasa und vertrieb Mobutu, der seit 1965 grausam geherrscht hatte. Es sah nach Frieden aus, doch der Krieg hatte gerade erst begonnen.

Der neue Machthaber in Kinshasa hieß Laurent-Désiré Kabila. Er taufte Zaire in Demokratische Republik Kongo um und überwarf sich mit seinen ehemaligen Alliierten aus Ruanda, denen er misstraute. Stattdessen verbündete er sich mit den Hutu-Milizen im Ost-Kongo, aus denen später die FDLR hervorging. Die Büchse der Pandora war geöffnet.

Neun afrikanische Staaten und mindestes 25 bewaffnete Gruppen zogen ab 1998 gegeneinander in den Krieg und verwandelten den Kongo in ein riesiges Schlachtfeld. Im Zentrum des Kontinents kulminierten all seine ungelösten Konflikte, Rivalitäten und Großmachtfantasien. Auch westliche Minenkonzerne spielten eine Rolle, ebenso verfolgten Frankreich und die USA ihre Interessen. Keine Kriegspartei ließ es sich nehmen, die kongolesischen Bodenschätze auszuplündern. Neben Coltan: Gold, Silber, Uran, Zink, Zinnerz und wertvolle Hölzer. Bis heute leidet die Region unter den Nachgeburten des Afrikanischen Weltkriegs. Pascal Ntakirutimana ist eine davon.

Damals, im Frühjahr 1994, als er als Flüchtling im Kongo ankam, war Pascal 18 Jahre alt. „Wir zogen mit mehreren Männern los“, erinnert er sich, „wir überfielen Bauern und raubten sie aus. Menschen, die wir unterwegs trafen, nahmen wir die Kleider ab“. Konkreter wird Pascal nicht, aber wenn man weiß, wie zögerlich und verklausuliert die Ruander Persönliches preisgeben, dann sind seine Worte Selbstbezichtigungen. „Ich genieße das Zusammensein mit den anderen im Camp“, sagt er. „Es verhindert, dass ich zu viel an die Vergangenheit denke.“

Sechs Jahre lang zog Pascal durch den Kongo, ehe er 2000 zur FDLR stieß, die von Mördern und Organisatoren des Genozids gegründet worden war. Nach einem Leben als Vagabund war Pascal nun ein moderner Landsknecht. „Ich kämpfte in einer Einheit zur Absicherung der Führer“, erzählt er. Man habe auch Frauen gehabt, sie lebten auf einem Hügel neben dem Lager. Mit der Zeit aber kamen Pascal immer stärkere Zweifel an seinem Tun.

Die FDLR-Führer erzählten zum Beispiel, dass die ruandische Regierung ein Programm zur Ausrottung der Hutus verfolge. Aber immer wenn Pascal mit seiner Schwester in Ruanda telefonierte – sie war schon vor längerer Zeit zurückgekehrt –, ging es ihr erstaunlich gut. Dann hörte Pascal im Radio die Stimmen desertierter FDLR-Kämpfer. Sie sagten, dass in Ruanda Frieden herrsche, und dass die anderen nachkommen sollten. Drei Tage später brach Pascal auf. „Persönlich brachte mir die FDLR nichts mehr.“ Nun will er zu seiner Schwester und seiner Mutter in die Universitätsstadt Butare zurückkehren und Taxi fahren.

Frank Musonera steht am Eingang zum Mutobo-Camp. Er ist von bulliger Statur, lächelt breit, trägt weiße Turnschuhe und ein Polo-Hemd. „Nach so vielen Jahren im Kongo haben die Männer keine Ahnung vom neuen Ruanda“, sagt er. „Wir zeigen es ihnen.“ Musonera ist der Camp-Chef und verantwortlich für den strengen Tagesablauf. Pascal und die anderen schlafen in einer Halle mit klapprigen Doppelstockbetten. Um fünf Uhr wird aufgestanden, dann geputzt, gekocht, am Unterricht teilgenommen, diskutiert, Sport getrieben, ferngesehen. Um 22 Uhr ist Bettruhe. „Sie haben noch die Mentalität von Soldaten“, sagt Musonera, „sie brauchen Ordnung“.

An rund 40 Vorträgen muss Pascal teilnehmen. Die Themen reichen von Geschichte über Ackerbau, Gleichberechtigung und Justizwesen bis zu Aidsvorbeugung. Nur, wer genügend Vorträge besucht hat, kriegt nach drei Monaten die Startprämie von umgerechnet 80 Euro ausbezahlt. Wenn man bedenkt, dass die meisten Ruander nicht mehr als einen Dollar am Tag zur Verfügung haben, ist das eine Menge. „Klar, viele kommen nur wegen des Geldes“, sagt Musonera.

Aber sie kommen. Erst am Tag zuvor sind 249 Ex-Kämpfer feierlich ins zivile Leben verabschiedet worden. Es wurde die Nationalhymne gesungen und die neue ruandische Flagge gehisst: hellblau, gelb, grün, mit einer Sonne in der Ecke. Dann forderte ein Ex-FDLR-Kommandant die Kämpfer im Kongo auf: „Kommt zurück!“

Immer mehr scheinen dem Ruf zu folgen. Die FDLR befindet sich in einer existenziellen Krise. Pascal berichtet, dass viele seiner Ex-Kameraden sauer seien, weil es nie Fleisch zu essen gebe. Dass viele unter Malaria litten, wie er selbst. Und dass die Anführer nicht die Wahrheit über Ruanda sagten. Es gebe definitiv mehr Deserteure als neue Rekruten. Roger Meece, Chef der UN-Mission im Kongo, bestätigt die Auflösungserscheinungen: „Die FDLR steht unter Stress. Ich sehe zum ersten Mal so etwas wie eine Lösung.“ Und Jean Sayinzonga, der aufgeräumte Chef der Demobilisierungskommission, präsentiert in Ruandas Hauptstadt Kigali einige Zahlen, die ihn sehr zufrieden machen: Seit Anfang 2009 wurden 3000 FDLR-Kämpfer repatriiert. In den zehn Jahren davor waren es insgesamt nur 6000.

Die Existenzkrise der FDLR, die noch auf eine Stärke von 5500 geschätzt wird, hat mit dem militärischen Druck und dem harten Leben im Busch zu tun. In erster Linie ist sie aber wohl eine Folge der Festnahme von FDLR-Chefs Ignace Murwanashyaka in Karlsruhe. 1989 kam dieser in die Bundesrepublik, studierte in Bonn, heiratete eine Deutsche, promovierte und vertrat nach 1994 die Interessen der in den Kongo geflohenen Hutus, darunter die Völkermörder. Dennoch wurde seinem Asylantrag im Jahr 2000 stattgegeben. 2001 wurde er Präsident der FDLR, was auch bedeutete, dass er ihre militärischen Aktionen steuerte. Zudem reiste er mehrfach mit Geld in den Kongo.

Es dauerte bis 2009, ehe Murwanashyaka wegen des „dringenden Verdachts, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben“, verhaftet wurde. Am 4. Mai beginnt in Stuttgart sein Prozess. „Wir sind zufrieden mit Deutschland“, lobt Ruandas Generalstaatsanwalt Martin Ngoga, der jahrelang auf die Festnahme gedrängt hatte, nun im Gespräch. „Aber es hätte schneller gehen können.“ Im Oktober 2010 wurde dann in Frankreich auch Callixte Mbarushimana festgesetzt, ein weiterer hochrangiger FDLR-Stratege. Zuvor hatte Frankreich als ehemaliger Verbündeter des Völkermord-Regimes immer gezögert, Hutu-Funktionäre festzusetzen.

Jetzt sei die Stimmung selbst unter den FDLR-Offizieren ziemlich gedrückt, sagt Pascal. Tatsächlich desertieren auch immer wieder Kommandeure und kehren nach Ruanda zurück. Was auch damit zu tun hat, dass sie in Ruanda keine Strafverfolgung wegen ihrer Verbrechen im Kongo befürchten müssen. Das sei die Aufgabe der kongolesischen Justiz, sagt Camp-Leiter Musonera kategorisch, „das ist nicht unser Problem“.

Am Mittag steht Pascal vor mehreren schwarzen Tonnen, unter denen Holzfeuer brennen. In den Bottichen kochen Maiskörner und Bohnen. Mehrere Ex-Kämpfer bereiten das Mittagessen vor. Rauch zieht durch die Halle, beißt in den Augen. Ob er denn schon etwas gelernt habe, seit er wieder in Ruanda ist? „Dass es keine Hutus und Tutsi mehr gibt“, sagt Pascal, „nur noch Ruander“. Und was erwartet er vom Unterricht? „Ich will lernen, wie man lebt.“

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