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Philip Ther, 49, ist Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien.

© picture alliance / dpa

Osteuropa-Historiker Philipp Ther: „In der Ukraine könnten die Griechenland-Milliarden mehr erreichen“

Osteuropa-Historiker Philipp Ther spricht über den Weg der neuen EU-Staaten zur Marktwirtschaft, die Kosten der Reform und Unterschiede zu Griechenland.

Von Hans Monath

Im Ringen um ein Rettungspaket für Athen zeigen sich die EU-Staaten östlich von Deutschland besonders kritisch - warum?

Die Erklärung ist einfach: Slowakische, estnische oder lettische Rentner erhalten nur einen Bruchteil des Einkommens griechischer Rentner. Sie fragen sich natürlich, warum ihre Regierungen Zahlungen für die Griechen leisten sollen, obwohl das Einkommensniveau in Griechenland viel höher ist. Dazu kommt: In vielen ostmitteleuropäischen Ländern ist auch der Mindestlohn erheblich niedriger als der in Griechenland, wo die Menschen allerdings auch mit einem höheren Preisniveau leben müssen. Deshalb ist die Bereitschaft dieser Länder zu Hilfe für Griechenland begrenzt.

Vor einem Vierteljahrhundert herrschte in den heutigen EU-Ländern zwischen Deutschland und Russland oder der Ukraine der Staatssozialismus. War beim Fall der Mauer absehbar, dass die Transformation in die Marktwirtschaft gelingen würde?

Nein, das war nicht absehbar. So waren beispielsweise in den frühen 90iger Jahren die Prognosen für Polen eher gemischt und zum Teil ungünstig. Doch 1991 wurde Polen ungefähr die Hälfte seiner Schulden erlassen - im Gegenzug für die sogenannte „Schocktherapie“. Dabei spielte aber auch die strategische Bedeutung Polens im östlichen Europa eine wichtige Rolle, die USA, die EG und der Internationale Währungsfond (IWF) wollten alles tun, damit die Reformen in Polen gelingen.

Warum haben die Länder im Osten der EU die Finanzkrise 2008/2009 so viel besser überstanden als etwa Griechenland?

Die Finanzkrise traf die Länder in unterschiedlichem Maß. In Polen gab es gar keine Krise, im Baltikum umso stärker. Das lettische Bruttosozialprodukt brach zum Beispiel um 18 Prozent ein, in den beiden anderen baltischen Ländern um 14 und 15 Prozent. Aber die politische Reaktion dieser Länder auf die Krise unterschied sich fundamental von der Griechenlands: Ihre Regierungen setzten den vorherigen neoliberalen Kurs fort. Das folgte aber auch einem politisch-strategischen Motiv: Die Balten wollten um fast jeden Preis die Anbindung an die EU halten und möglichst Teil der Euro-Zone werden, um sich vor Russland zu schützen. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts kann man sagen: Die Entscheidung war richtig.

Was war der sozialpolitische Preis dieser Entscheidung?

Ein brutales Sparprogramm. Die Balten haben ihre jeweiligen nationalen Währungen intern massiv abgewertet. Das ging nur, indem sie sämtliche Sozialleistungen und die Beamtengehälter massiv reduzierten - im Schnitt um 25 Prozent. Das hatte eine negative Folge, die häufig übersehen wird. Aus all den Ländern der Region, die das neoliberale Programm fortsetzten, wanderten Teile der Bevölkerung aus. Lettland und Rumänien beispielsweise haben innerhalb weniger Jahre zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren. In gewisser Hinsicht haben sie ihre sozialen Probleme exportiert.

Was wäre passiert, wenn Athen das Rezept angewandt hätte?

IWF-Chefin Lagarde hat das vor gut drei Jahren sogar empfohlen. Wenn Griechenland diesen Weg gegangen wäre, hätten hypothetisch eine Million Griechen das Land verlassen. Wenn Italien es versucht hätte, wären sechs Millionen Italiener in reichere EU-Länder ausgewandert. Aber es gab ja auch nie die politische Bereitschaft dazu.

Was war der Beitrag der EU zum Erfolg der Transformation im Osten Europas?

Die EU hat einen erheblichen Beitrag zum Erfolg geleistet, weil sie massive Transferleistungen zur Verfügung stellte, die inzwischen den Umfang des Marshall-Plans nach dem Zweiten Weltkrieg bei weitem übersteigen. Diese solidarische Politik hat sehr gut funktioniert und dazu geführt, dass bislang vernachlässigte Bevölkerungsgruppen und Landesteile am Aufschwung teilhaben konnten. Im Süden Europas hat die EU diese Politik nicht wiederholt. Womöglich konnte sie sie auch nicht wiederholen, weil man nicht überall gleich hohe Summen zur Verfügung stellen konnte. Auch im Fall Griechenlands sind von der EU über viele Jahre hohe Summen zur Verfügung gestellt worden, etwa durch Regionalfonds, Strukturmittel oder den Ausbau der Infrastruktur.

Warum hat der EU-Beitritt dann in Griechenland keinen Wirtschaftsaufschwung ermöglicht?

Die EU-Förderprogramme wirken nur dann, wenn der Nehmer-Staat gut funktioniert. Da gibt es auch Unterschiede in Osteuropa: In Polen funktioniert er weit besser als in Rumänien oder Bulgarien. Womöglich muss man die Programme so umbauen, dass sie auch unter nicht idealen Bedingungen besser wirken. In Griechenland gibt es bei elf Millionen Einwohnern einen öffentlichen Sektor von einer Million Angestellter, der Staat ist klientelistisch organisiert, die Steuerverwaltung funktioniert nicht. Griechenland ist es nach dem EU-Beitritt weder gelungen, einen modernen Staat noch eine ertragreiche Wirtschaft aufzubauen. Dafür sind in erster Linie die griechischen Eliten verantwortlich. Aber auch in Brüssel und Berlin wird man darüber nachdenken müssen, warum der EU-Beitritt Athens in dieser Hinsicht ein Fehlschlag war. Und ob es richtig war, seit 2010 immer nur auf Sparen zu setzen und nicht auf ein kluges Investieren.

Warum funktionierte die Transformation hin zur Marktwirtschaft in den östlichen EU-Ländern, nicht aber in der Ukraine?

Weil die einen EU-Mitglieder sind, die anderen eben nicht. Die EU ist mit ihren stabilisierenden Transferleistungen entscheidend für das Gelingen der Transformation. Nehmen wir Polen und die Ukraine. Beide Länder waren 1991 auf ungefähr gleichem wirtschaftlichen Niveau, auch der Lebensstandard war vergleichbar. Sie haben sich dann aber diametral auseinander entwickelt. Ein anderer wichtiger Grund ist der Oligarchen-Kapitalismus. Die Ukraine versucht sich von diesem Wirtschaftssystem gerade zu befreien, das auch das politische System prägt. Dabei hat sie alle Unterstützung des Westens verdient. Wenn man nur einen Bruchteil der Milliarden, die nach Griechenland geflossen sind, in der Ukraine investieren würde, könnte man dort erheblich mehr erreichen.

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