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Ein pro-russischer Demonstrant bewacht Barrikaden in Donezk.

© Alexander Khudoteply/AFP

Ostukraine in der Krise: Das geplünderte Land

Viele Menschen im Osten der Ukraine sind bitterarm. Jahrelang wurden sie von der Politik vergessen. Gerade die Jungen fühlen sich um ihre Zukunft betrogen und fragen: Was ist, wenn hier Krieg ausbricht?

Sein letzter Ausweg, gesteht er, sein wirklich letzter Ausweg sei Kanada. Auswandern. Wenn es in Donezk noch schlimmer werde, müsse er wohl gehen, sagt Dimitrij Makarenko. Schließlich sei er jung, sein ganzes Leben liege noch vor ihm. Aber er fürchtet diesen Schritt, zum einen ist er noch nie in den USA oder in Kanada gewesen, zum anderen schmerzt der Gedanke, die Familie und die Freunde in der Provinz Donbass zurückzulassen.

Im Donbass, im östlichsten Teil der Ukraine, lebt seine Familie schon seit Generationen. Sein Vater und Großvater haben in den Kohleminen der Gegend gearbeitet – und sie waren stolz darauf. Auch die meisten seiner Freunde leben von der Schwerindustrie, durch die die Region Ende des 19. Jahrhunderts groß und wichtig geworden ist.

Dimitrij Makarenko, der schlanke junge Mann mit dem tiefdunklen Haar, 27 Jahre alt, ist der Erste seiner Familie, der studiert. Er wird Ingenieur. Und während in seiner Heimatstadt Donezk Schüsse durch die Straßen hallen, wo Demonstranten Autoreifen und Holz zu Barrikaden auftürmen, sitzt Dimitrij Makarenko in der Universität.

Der Weg hinaus, raus aus der bescheidenen Mietwohnung der Familie Makarenko, weg von der Perspektive, am Ende mit dem für die Region üblichen Monatslohn von 350 bis 400 Euro leben zu müssen, soll für Dimitrij Makarenko durch Bibliotheken führen. Gerade schreibt er an seiner Doktorarbeit, er hat keine Zeit für Barrikadenbau. Er hat an ein paar proukrainischen Demonstrationen teilgenommen, bei Diskussionsabenden mit debattiert. Aber er sieht sich eher als Wissenschaftler und Lehrer. Politisch ist er nicht. Als ob das noch ginge in diesen Tagen, mitten im Kohlenpott der großen Ukraine, der auseinanderzubrechen droht.

Plötzlich sprechen sie von Krieg

Nachdem Russland im März die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte, fürchten Beobachter nun, dasselbe könne auch mit dem Osten des Landes passieren. Viele der Menschen hier lehnen einen Anschluss an Russland ab. Sie haben das auch in den Straßen von Donezk lauthals verkündet. Dann tauchten plötzlich maskierte und bewaffnete Männer auf. Sie besetzten öffentliche Gebäude und Polizeistationen, und wenn jemand fragte: Wo kommen die her?, dann sagten die Leute: nicht von hier. Und zeigten in Richtung Russland. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstranten. Die Regierung ging am Wochenende mit Spezialeinheiten gegen die Besetzer vor, dabei gab es Tote und Verletzte. Am Montag wurden in Donezk weitere Gebäude besetzt, in der Kleinstadt Gorliwka stürmten Bewaffnete die Polizeiwache; in Schdanowka die Stadtverwaltung. Der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow sprach von Krieg und kündigte eine Militäraktion im Osten der Ukraine an. Ab sofort könnten sich Freiwillige melden.

„Was ist, wenn hier Krieg ausbricht oder wir so weitermachen wie in den letzten 15 Jahren?“, fragt Dimitrij Makarenko. Ihm geht es hier nicht nur um die Frage der Nationalität, darum Russe zu sein oder Ukrainer. Es geht um die Zukunft. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen wollen einen Neuanfang, in der Politik und in der Wirtschaft. Endlich einmal.

Männer hocken auf Mauern zwischen den trostlosen Häuserblocks. Die Politik hat sie vergessen

Schon seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die Region einschneidende Umbrüche. Der Niedergang der Kohle- und Metallindustrie produzierte massenhaft Arbeitslose. Seit mehr als einem Jahrzehnt war die Partei von Viktor Janukowitsch für die politischen und wirtschaftlichen Belange der Region verantwortlich. Doch der Ex-Präsident, selbst nahe Donezk geboren, kümmerte sich nur wenig um seine Heimatregion. Erst im Winter 2009/2010 war er häufig im Donbass unterwegs und machte vollmundige Wahlversprechen. Eines davon lautete: „Wir werden in Donezk auch noch in 500 Jahren Kohle fördern.“ Wohlstand und neue Arbeitsplätze würden in die Region kommen. Umgesetzt wurde wenig davon.

Was das genau für den Osten und seine Bewohner bedeutete, lässt sich am besten erkennen, wenn man die Großstadt Donezk verlässt und ein paar Kilometer hinausfährt, zum Beispiel nach Makeewka, einer 360 000 Einwohner großen Bergarbeiterstadt.

Ein enger Weggefährte Janukowitschs war Anfang der 2000er Jahre Bürgermeister von Makeewka. Wie die meisten anderen aus dem Umfeld Janukowitschs stiegen auch Wasili Dscharta und seine Familie in dessen Ära stetig weiter auf. Der Bürgermeister wurde 2003 in die Regionalregierung berufen, drei Jahre später leitete er den Wahlkampf der Janukowitsch-Partei, wurde Umweltminister und später Gouverneur der Krim. Seine Tochter, obwohl erst 23 Jahre alt, bekam 2011 einen Posten im Kiewer Regionalzollamt, dort ernannte man sie zur stellvertretenden Leiterin der Mammutbehörde.

Die Bewohner von Makeewka aber kämpfen ums Überleben. Die Stadt ist aus vielen einzelnen Siedlungen zusammengewachsen. Heute prägen Gebäude aus den Zeiten der Sowjetunion sowie einige wenige Großprojekte, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, das Stadtbild.

Dimitrij Makarenko hat erst gezögert, dann fährt er schließlich doch mit an den Stadtrand von Makeewka. Der junge Mann ist vorsichtig, wie die meisten in Donezk traut er sich kaum, öffentlich Kritik zu üben. „Anstatt in die marode Industrie zu investieren und unsere Kohle- und Metallwirtschaft konkurrenzfähig zu machen, wanderte fast jeder Dollar in die Taschen einiger weniger“, sagt er dann doch. Das Kirow-Bergwerk von Makeewka ist noch im staatlichen Besitz, es kann durch seine veraltete Technik aber nicht wettbewerbsfähig produzieren. Die Kohle, die dort gewonnen wird, geht an ukrainische Abnehmer. Bisher hat der Staat dafür gezahlt, doch das wird nun, nachdem der IWF harte Reformen im ukrainischen Energiesektor gefordert hatte, ein Ende haben.

Sie haben Angst, ihre Namen zu nennen

Am späten Vormittag in Makeewka angekommen, fallen viele Männer mittleren Alters auf. Sie hocken auf Mauern zwischen den trostlosen Häuserblocks. Die zu sowjetischen Zeiten in einfacher Bauweise hochgezogenen Apartmenthäuser sind nie renoviert worden. Heute befinden sie sich in einem desolaten Zustand, einige Gebäude scheinen seit langem unbewohnbar. Fensterrahmen fallen auseinander, Klingelschilder sind herausgerissen. In den fensterlosen Treppenhäusern gibt kein Licht, es stinkt nach Urin und Erbrochenem.

Hier wohnt der 31-jährige Sascha. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. In der winzigen Kommunalwohnung, die seinen Großeltern vor mehr als 40 Jahren als Bergarbeiterwohnung zugewiesen wurde, lebt er heute zusammen mit seiner Mutter und der Großmutter auf knapp 40 Quadratmetern. Sascha sieht ausgemergelt aus, einige seiner Vorderzähne fehlen. Nein, die Wohnung könne er nicht herzeigen, die Mutter und die Großmutter seien krank, entschuldigt sich Sascha.

In den Dörfern sei das Problem noch größer. „Dort gibt es nichts: keine Arbeit und keine Zukunft.“

Zurzeit sei er ohne Beschäftigung, früher habe er mal im Kirow-Bergwerk gearbeitet, das sei aber schon lange her. Hin und wieder würde er bei „Sicherheitsfirmen“ arbeiten, um welchen Job es sich dabei handelt oder wer ihn dort beschäftigt, verschweigt er. „Das ist meine Art von Business, für einen wie mich gibt es nicht so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen“, sagt Sascha.

Wie in vielen Städten des Donbass steht auch in Makeewka ein großer Kirchenneubau. Die Sankt-Georgs-Kathedrale wurde 2002 unter Bürgermeister Dscharta begonnen, 2007 war Einweihung des im byzantinisch-russischen Stil erbauten Gotteshauses. In den Folgejahren wurde die Kirche immer weiter ausgebaut, unter anderem wurden 2010 Freskenmaler aus Moskau beauftragt, die die Wände und Säulen mit Szenen aus dem Leben des Heiligen Georgs schmückten. So bitterarm die Stadt ist, dafür scheint es doch Geld gegeben zu haben.

Auf dem Weg zurück nach Donezk erläutert Dimitrij Makarenko, dass es im Donbass viele Leute wie Sascha gebe. In den kleinen Städten oder Dörfern sei das Problem noch größer. „Dort gibt es nichts: keine Arbeit und keine Zukunft“, sagt er. Die meisten jungen Leute hätten Probleme mit Alkohol, aber auch mit synthetischen Drogen.

Hilfsprogramme gibt es kaum, im Gegenteil. Einige Priester der einflussreichen orthodoxen Kirche verbreiten die Botschaft, die Arbeitslosen und Drogenabhängigen seien selber an ihrer Lage schuld, weil sie gesündigt hätten.

Es ist vielleicht kein Wunder, dass es vielen hier an Kraft fehlt, sich zu engagieren. „Wir Menschen müssen die Politik kontrollieren“, sagt Jewgenij Semekhin. Der Studienkollege von Dimitrij Makarenko ist Mitglied in der Demokratischen Allianz, einer Partei, die sich aus der Bürgerrechtsbewegung entwickelt hat. Das Bündnis hat auch die Proteste auf dem Maidan in Kiew mit organisiert und ist auch im Donbass sehr aktiv.

Neben seinem Beruf als Vertriebsmitarbeiter macht Jewgenij Semekhin nach Feierabend Politik. Länder wie Deutschland sind für ihn ein Vorbild, weil sich dort viele aktiv in Parteien und Verbänden engagieren. „Anders funktioniert Demokratie nicht“, sagt Semekhin. Und er ist entschlossen, sich weiter einzusetzen. Käme es zum Äußersten, zum Krieg, Jewgenij Semekhin würde kämpfen, keine Frage.

„Die Menschen bei uns müssen endlich zu Bürgern werden“, sagt Dimitrij Makarenko. Mit aller Kraft arbeitet er daran, eine Anstellung als Dozent an der Universität zu bekommen. Die Sache mit dem Krieg sieht er anders als sein Freund Jewgenij. Kämpfen? Auf keinen Fall. Lieber zieht er weg. Nach Kiew. Oder, wenn es nicht anders geht, eben doch bis nach Kanada.

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