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Politik: Otto Graf Lambsdorff über die Verteilung von zehn Milliarden Mark an NS-Zwangsarbeiter

Otto Graf Lambsdorff (73) ist der Beauftragte der deutschen Bundesregierung für die Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern. Gemeinsam mit dem amerikanischen Unterhändler Stuart Eizenstat bemüht sich der Ehrenvorsitzende der deutschen Liberalen, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

Otto Graf Lambsdorff (73) ist der Beauftragte der deutschen Bundesregierung für die Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern. Gemeinsam mit dem amerikanischen Unterhändler Stuart Eizenstat bemüht sich der Ehrenvorsitzende der deutschen Liberalen, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Vor der nächsten Gesprächsrunde in Berlin am heutigen Donnerstag sprachen Christian Böhme und Stefan Reinecke mit Lambsdorff.

Herr Lambsdorff, fast ein Dreivierteljahr Regierungsbeauftragter für die Entschädigungsgespräche. Sind Sie erschöpft?

Wenn Sie das körperlich meinen, lautet die Antwort ja. Die vielen Atlantiküberquerungen, der Jetlag. Ansonsten aber nicht. Die Aufgabe ist zwar schwierig. Aber wir sind vorangekommen.

Ein bisschen amtsmüde?

Nein, die Sache wird so zu Ende gebracht, wie ich den Auftrag übernommen habe. Das heißt selbstverständlich nicht, dass ich mich bis zum Schluss noch in die letzten bürokratischen Verästelungen hineinarbeite. Aber mindestens die Gesamtsumme musste unter Dach und Fach gebracht werden, das ist geschehen. Nun muss noch über die Verteilung der zehn Milliarden Mark entschieden und die Gesetzgebung begleitet werden.

Am 17. Februar treffen Sie sich mit den verschiedenen Vertretern der Opfer in Berlin zu einer neuen Verhandlungsrunde. Glauben Sie, dass danach der Durchbruch geschafft ist?

Nein. Ich rechne nicht mit einem abschließendem Ergebnis in dieser Woche in Berlin.

Warum nicht?

Weil die Verteilungsgespräche noch nicht so weit sind. US-Unterhändler Stuart Eizenstat und ich haben die Opferverbände aufgefordert, die Verteilung unter sich auszumachen und uns dann einen Vorschlag zu machen. Dieser muss sich nicht nur im Rahmen der zehn Milliarden Mark bewegen, sondern auch berücksichtigen, dass wir Geld für den Vermögensschädenfonds, für den Zukunftsfonds und für bei den Gesprächen nicht beteiligte ehemalige Zwangsarbeiter brauchen, ganz abgesehen von den etwa 300 Millionen Mark für Verwaltungskosten einschließlich der Anwaltshonorare. Das heißt, rund 7,7 Milliarden Mark stehen unmittelbar den ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern zur Verfügung.

Opfervertreter sind der Auffassung, dass 7,7 Milliarden für die individuelle Entschädigung zu wenig sind. Ein Vorschlag lautet, den von der Wirtschaft geforderten Zukunftsfonds zu Gunsten der Überlebenden mit weniger als einer Milliarde Mark auszustatten. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Die Stiftung heißt nicht umsonst "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Sie ist also nicht nur rückwärts gewandt, sondern sie soll auch in die Zukunft hinein wirken. Das ist von Anfang an der gemeinsame Standpunkt der Bundesregierung und der deutschen Industrie gewesen. Auch die israelische Regierung und die Jewish Claims Conference begrüßen den Zukunftsfonds.

Aber schon mit 100 Millionen Mark könnte für die Zukunft viel Gutes getan werden.

100 Millionen Mark, das ist zwar viel Geld. Der Zukunftsfonds soll aber das Grundkapital sein, mit dessen Zinsen dann längerfristige Projekte finanziert werden. Hundert Millionen Mark brächten nur fünf Millionen Mark im Jahr. Damit können sie weltweit nicht allzu viel anfangen.

Aber ist der Wunsch nach mehr Geld für das einzelne Opfer nicht legitim?

Ich verstehe die Haltung der Opfer. Und ich wünschte, es gäbe mehr Geld als die zehn Milliarden. Aber das ist nun mal die Grenze.

Es wird also bei einer Milliarde Mark für den Zukunftsfonds bleiben?

Ich warte jetzt auf die Vorschläge. Nur eins muss klar sein: Für einen auf Zwergenmaß reduzierten Zukunftsfonds wird es von der deutschen Industrie kein Geld geben.

Könnten an diesem Punkt die gesamten Verhandlungen noch scheitern?

Nein, wir werden uns in dieser Frage einigen. Niemand wird sagen: Ich lasse die Sache platzen und verzichte auf das Geld.

Kritik gibt es auch an der Höhe des Fonds für Vermögensschäden, etwa durch "Arisierung" jüdischen Eigentums. Es gäbe nicht genug Anträge, um eine Milliarde Mark auszuschöpfen.

Darüber kann man selbstverständlich lange streiten. Die Jewish Claims Conference geht nicht davon aus, dass die eine Milliarde durch konkrete Ansprüche ausgeschöpft wird, sondern es geht auch darum, dass sie ein Teil dieses Geldes für ihre Organisation, für ihre Einrichtungen und für ihre Arbeit bekommen soll. Die Claims Conference übrigens sagt: Eine Milliarde ist uns nicht genug, wir wollen mehr. Ich habe aber signalisiert, dass dies illusorisch ist.

Geld kann nur verteilt werden, wenn es auch da ist. Die Wirtschaft hat erst zwei der fünf zugesagten Milliarden beisammen. Geht das nicht ein wenig zu schleppend voran?

Ich bin nicht der Geldsammler der Industrie. Die hat fünf Milliarden zugesagt, daran halte ich mich.

Ärgert Sie es, dass es beim Geldsammeln der Wirtschaft so langsam vorangeht?

Ich finde es nicht besonders eindrucksvoll, und ich finde auch die Reaktionen einiger Unternehmen nicht sehr imponierend. Aber das ist wirklich ein Problem der Industrie.

Manche Firmen sagen: Wir haben doch nur den Namen eines alten Betriebes übernommen. Oder: Wir waren nach dem Krieg bankrott, warum sollen wir zahlen? Können Sie diese Argumente nachvollziehen?

Nein, das ist ein Fehler dieser gesamten Diskussion. Manche Firmen sagen: Wir haben Zwangsarbeiter beschäftigt, deswegen müssen wir uns wohl beteiligen. Andere sagen: Wir haben Zwangsarbeiter beschäftigt, wir beteiligen uns aber nicht, weil wir am Ende des Krieges zerstört waren. Aber das ist der falsche Ansatz. Die richtige Position ist: Wir haben überhaupt keine Zwangsarbeiter beschäftigt, wir sind erst vor zehn Jahren gegründet worden, aber wir sehen eine moralische Gesamtverantwortung der deutschen Wirtschaft. Deswegen sagen Sie uns bitte, wohin wir einen Betrag überweisen können. Zum Glück gibt es Unternehmen, die sich so verhalten. Das muss sein, denn es geht auch um die Zwangsarbeiter, deren damalige Firmen nicht mehr existieren. Was machen wir denn mit denen? Es war ein respektabler Ansatz deutscher Unternehmen, jene Zwangsarbeiter, die bei ihnen beschäftigt waren, zu bedenken. Aber dieses Verfahren reicht nicht aus, weil es jene ausklammert, deren Firmen nicht mehr existieren. Die Entschädigung ist eine moralische Verantwortung der deutschen Wirtschaft, und zwar aller Unternehmen, unabhängig davon ob sie Zwangsarbeiter beschäftigt haben oder nicht.

Viele Fachleute sagen, dass Deutschland ohne Zwangsarbeit den Krieg nicht hätte führen können. Und dass auch das Wirtschaftswunder nicht so rasch möglich gewesen wäre.

Den Zusammenhang von Zwangsarbeit und Wirtschaftswunder halte ich für wenig plausibel. Richtig ist sicherlich, dass der Krieg nicht bis Mai 1945 gedauert hätte, wenn es keine Zwangsarbeiter gegeben hätte. Denn ohne Zwangsarbeiter wäre nicht nur die Rüstungsproduktion zusammengebrochen, sondern viel mehr. Denn es gab ja Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft, in Haushalten, in Textilfabriken. Der Kernpunkt ist und bleibt: Die Zwangsarbeiter sind in Deutschland ausgebeutet worden. Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft waren in das Unrechtssystem verstrickt. Deshalb müssen jetzt beide versuchen, die Sache in Ordnung zu bringen. Soweit das überhaupt mit Geld und einige Jahrzehnte zu spät möglich ist.

Streit gibt es auch, weil laut Gesetzentwurf nur entschädigt werden soll, wer in den deutschen Grenzen von 1937 Zwangsarbeit geleistet hat. Schließt man damit nicht viele Menschen aus?

Wenn Sie über die Grenzen von 1937 hinausgehen, dann beziehen Sie Österreich ein. Sollen wir dafür auch zahlen?

Österreich hat vor kurzem angekündigt, Zwangsarbeiter zu entschädigen . . .

Selbstverständlich kann man zweifeln, ob die Begrenzung auch das Reichsgebiet 1937 gerecht ist. Nehmen wir einen extremen Fall. Jemand ist aus der Ukraine nach Norwegen zur Zwangsarbeit verschickt worden ist. Warum wird der schlechter behandelt als jemand, der hier in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste? Was machen sie aber mit jemanden, der aus Polen in das damalige Generalgouvernement verschleppt worden ist? War der ebenso schlecht dran wie der in Norwegen? Oder ging es dem nicht doch besser, weil in seiner eigenen sprachlichen Umgebung lebte? Das kann man hin und her diskutieren. Ich traue mir nicht zu, immer zu sagen, was gerecht ist. Wir sind aber auf dem Wege zu einer vernünftigen Lösung.

Sollen auch Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft entschädigt werden?

Nein. Denn das Schicksal eines Zwangsarbeiters in einem von Bomben bedrohten Rüstungsbetrieb in Essen war anders als das eines Zwangsarbeiters auf einem bayerischen Bauernhof. Härtefälle ausgeschlossen, die kann man regeln. Doch wenn man den Kreis der Anspruchsberechtigten zu weit zieht, werden am Schluss für die einzelnen Opfer nur Almosenbeträge herauskommen.

Werden Sie auf dieser Position bei den Verhandlungen beharren?

Nein. Wenn sich die verschiedenen Vertreter der Opfer darauf einigen, dass sie landwirtschaftliche Zwangsarbeiter mit einbeziehen wollen, dann kann das geschehen. Aber dann tragen sie auch die Verantwortung für die zu geringen Pro-Kopf-Beträge. Das gleiche gilt für die Frage, ob die Reichsgrenze von 1937 als Kriterium bleibt.

Und wenn es bei der Einschränkung auf die Grenzen von 1937 bleibt, wird es dann böses Blut geben?

Ich habe immer gesagt, dass nach Abschluss der Gespräche alle gleichmäßig milde unzufrieden sein werden. Schon die Verhandlungen über die Gesamtsumme für die Entschädigung waren schwierig. Jetzt geht es um die Verteilung des Geldes. Da verschärft sich der Ton, was mich aber nicht wundert.

Wann werden die Zwangsarbeiter Entschädigung beantragen können?

Noch vor der parlamentarischen Sommerpause sollten wir die Gesetzgebung unter Dach und Fach haben. Dafür ist Voraussetzung, dass sich die Parteien verständigt haben. Denn das Verhandlungsergebnis muss sich im Stiftungsgesetz spiegeln. Das ist ja ohnehin ein ungewöhnlicher Fall für den Bundestag. Das Parlament muss die Ergebnisse internationaler Verhandlungen in nationales Recht umsetzen. Selbstverständlich entscheiden am Ende allein Bundestag und Bundesrat über das Gesetz. Aber wenn sich darin nicht die Gesprächsresultate wiederfinden, kämen wir zu keinem Ergebnis.

Wenn Sie die vergangenen neun Monate Entschädigungsverhandlungen Revue passieren lassen, würden Sie nochmal die Aufgabe eines Regierungsbeauftragten übernehmen?

Das denke ich schon. Irgendjemand muss es machen. Das ist eine Sache, die kann man nicht liegen lassen. Es ist eine nationale Aufgabe, die wir in Deutschland lösen müssen, spät, aber besser zu spät als gar nicht. Wenn der Bundeskanzler mich noch einmal darum bitten würde, diese Aufgabe zu übernehmen, dann täte ich es wieder.

Herr Lambsdorff[fast ein Dreivierteljahr Regierun]

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