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Politik: Pariser Baustellen

Frankreich macht Ferien – danach soll es weitere Reformen geben

Normalerweise verabschieden sich die Franzosen am 15. Juli, einen Tag nach dem Nationalfeiertag, nach der wichtigen Rede ihres Präsidenten zur Lage der Nation, in den Urlaub, um sechs Wochen später gut gelaunt zurückzukehren. In diesem Jahr wird alles etwas anders sein. Staatschef Jacques Chirac wird Schwierigkeiten haben, der nach Dauerstreiks, Protestwellen und schlechten sozialen Nachrichten zermürbten Bevölkerung zu erklären, warum sie fröhlich Pause vom Alltag machen soll. Seine 14.-Juli-Bilanz dürfte ihn in rhetorische Not bringen, denn anders als noch zu Jahresbeginn stehen Chirac und seine konservative Regierung in vielen Bereichen als Versager da. Jüngste Blamagen: Das Aus für die renommierten französischen Kulturfestivals und das Scheitern einer Verwaltungsreform für mehr Autonomie auf der Insel Korsika.

Die für Frankreich so imageträchtigen Sommerfestspiele sind aufgrund sozialer Proteste der Kulturbeschäftigten ins Wasser gefallen, die umstrittene Rentenreform ist zwar durchgeboxt, zurück bleibt aber die große Schar der französischen Beamten und Funktionäre – immerhin knapp 50 Prozent der französischen Erwerbstätigen. Die wollen weiterhin nicht einsehen, warum sie künftig bis zu fünf Jahre länger arbeiten sollen, um am Ende ihres Berufslebens weniger Rente als früher zu kassieren.

Es ist davon auszugehen, dass nach den großen Ferien die unzufriedenen Beamten den Funktionären der letzten noch nicht privatisierten Staatsbetriebe bei Massenstreiks und Kundgebungen zu Hilfe eilen, denn noch 2003 will die Regierung beginnen, die Beteiligungen an etlichen Vorzeigeunternehmen drastisch zu senken. Auf der Privatisierungsliste stehen die Fluggesellschaft Air France (70 000 Beschäftigte), die Strom- und Gasversorger EDF/GDF (140 000), der mit 70 Milliarden Euro verschuldete Telefonkonzern France Télécom (270 000) und die Eisenbahngesellschaft SNCF (175 000). Geplant sind drastische Stellenkürzungen und der Abbau von Privilegien.

Zwar ist die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin schon seit ihrem Amtsantritt im Mai 2002 auf soziale Konfliktsituationen vorbereitet, bislang aber kam es weitaus schlimmer, als die Politiker vermutet hatten. Wochenlang protestierten im Mai und Juni Frankreichs Lehrer und gingen mit ihren Streikaktionen soweit, dass die ersten Abiturprüfungen beinahe ausgefallen wären. Der Grund für den Zorn der Pädagogen ist noch lange nicht ausgeräumt: Sie fürchten den Wegfall eines Großteils ihrer Stellen. „Projekt zur Dezentralisierung“ heißt der Regierungsplan, mit dem bislang etliche zentral gesteuerte staatliche Aufgaben den Regionen übertragen werden. So soll der Ende des Jahres voraussichtlich mit rund 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verschuldete Staatshaushalt entlastet werden soll. Eine Art „Mini-Föderalismus“ nach dem Beispiel der Bundesrepublik, dem nach den Lehrern auch die Korsen bei einem Bürgerreferendum für mehr Selbstständigkeit der Insel eine Absage erteilten, wenn auch aus anderen Gründen. Allen gemeinsam: Sie wollen weiterhin den starken Wohlfahrtsstaat, der sich um alles kümmert.

Doch diese Zeiten sind vorbei, zumindest wenn es nach Premierminister Jean-Pierre Raffarin geht. „Die Gesellschaft von morgen ist die Gesellschaft der Reformen", hat er angekündigt. Noch im Herbst will er eine dritte große Baustelle eröffnen: die Reform des Gesundheitswesens. Bis zum Jahresende wird in der staatlichen Krankenkasse ein Loch von mehr als zehn Milliarden Euro klaffen. Die Regierung plant eine „Reform in kleinen Schritten“ um die Bürger nicht noch mehr zu verärgern – im nächsten Jahr sind Regional- und Europawahlen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das staatliche Gesundheitssystem mit seinen katastrophalen Personal-Engpässen in den Krankenhäusern, schlecht bezahlten Ärzten und teuren privaten Zusatzkrankenversicherungen kurz vor dem Kollaps steht. Die drastische Erhöhung der Tabaksteuer und eine Liste von mehr als 600 Medikamenten, die nicht mehr erstattet werden, sind nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die Gewerkschaften haben bereits angekündigt, dass sie jede Krankenkassen-Beitragserhöhung als „Kriegserklärung“ auffassen werden.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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