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Wieder zurück auf 598 Sitze? Der Bundestagsoll kleiner werden über eine Wahlrechtsreform.

© Michael Kappeler/dpa

Parlament soll kleiner werden: Ampel-Vorstoß zur Wahlrechtsreform – überraschend, aber verfassungswidrig?

Der Vorschlag von SPD, Grüne und FDP für eine Reform des Wahlrechts wirft Fragen auf. Zwei Juristinnen sehen grobe rechtliche Verstöße.

Mit ihrem Vorschlag für eine Wahlrechtsreform hat die Ampel-Koalition in der vorigen Woche die Öffentlichkeit überrascht – und auch die Opposition im Bundestag. Nun mehren sich die Zweifel, ob der Vorschlag der Weisheit letzter Schluss ist. Auch verfassungsrechtliche Bedenken werden erhoben.

Unions-Fraktionschef Friedrich Merz hat schon mit einer Klage in Karlsruhe gedroht, falls die Koalition das Modell – vorgestellt von den drei Abgeordneten Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) – mit ihrer Mehrheit im Parlament durchsetzen sollte.

Was will die Ampel? Unter Verwendung des Begriffs „verbundene Mehrheitsregel“ wird das bestehende System der „personalisierten Verhältniswahl“ etwas anders begründet, im Wesentlichen aber fortgeführt. Einer der Verfechter, der Politikwissenschaftler Robert Vehrkamp, schreibt zum Neuansatz bei der Mandatszuteilung, dass der „Erfolg der Personenwahl im Wahlkreis unter den Vorbehalt eines ausreichenden Zweitstimmenanteils aus der Verhältniswahl“ gestellt werde.

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Diese Zweitstimmendeckung der Direktmandate läuft darauf hinaus, dass im Fall von Überhängen – wenn eine Partei also über die Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenproporz an Sitzen zusteht – Direktmandate nicht zugeteilt werden. Damit würde erreicht, dass der Bundestag nicht mehr über seine Normalgröße von 598 Mandate hinauswächst.

Zwei Systeme nebeneinander

Letztlich bedeutet dies, dass sozusagen zwei Zuteilungssysteme nebeneinander bestehen. Welches angewendet wird, ergibt sich erst am Wahlabend im Lauf der Auszählung. Wenn in einem Bundesland keine Überhänge entstehen, würde wie bisher ohne jede Änderung zugeteilt. Die Direktmandatsgarantie für Wahlkreissieger, eine Grundregel der Mehrheitswahl, gilt.

Kommt es zu Überhängen – bei der Wahl 2021 war das in immerhin neun Ländern der Fall –, dann tritt die Direktmandatsgarantie außer Kraft. Es werden dann den Wahlkreissiegern mit den niedrigsten Erststimmenanteilen keine Mandate zugeteilt, bis der Überhang verschwunden ist. Es handelt sich somit um ein Kappungsmodell.

Damit alle Wahlkreise dennoch einen gewählten Direktabgeordneten im Bundestag haben, wird eine Ersatzstimme eingeführt. Diese dritte Stimme von Wählern des Bewerber mit nicht zugeteiltem Mandat würde den weiteren Bewerbern zugerechnet. Wer nach eigenen Erststimmen plus Ersatzstimmen vorn liegt, hat das Mandat.

Verstoß gegen Wahlgleichheit

Die Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger sieht diese Kombination allerdings kritisch. Einerseits sollten Wahlkreiskandidaten grundsätzlich nach der Mehrheitsregel bestimmt werden, andererseits aber könne „einem anderen Kandidaten als demjenigen mit der relativen Mehrheit“ das Mandat zugeteilt werden. Das sei „verfassungsrechtlich nicht haltbar“. Über die Ersatzstimme werde „den Wählern des Wahlkreisersten eine doppelte Erfolgschance eingeräumt“ – denn zunächst haben sie eine Einflussmöglichkeit über ihre Erststimme, bei Nichtzuteilung eines Mandats bestimmen sie im Gegensatz zu allen anderen Wählern im Wahlkreis aber auch in der zweiten Runde mit. Das verstößt laut Schönberger gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit.

Gar keine Stimme

Die Juristin weist auch auf einen weiteren Mangel hin, der erkennbar zur Verfassungswidrigkeit führt. Es könnte nämlich dazu kommen, dass Wähler gar keine Stimme mehr hätten. Und zwar dann (am Beispiel), wenn ein CDU-Bewerber das Mandat nicht zuerkannt bekommt und die Ersatzstimmen seiner Wähler der SPD-Bewerberin zum Mandat verhelfen würden, die aber – da auch ihre Partei Überhänge hat – ebenfalls kein Mandat bekommt. Es gäbe dann eine dritte Verteilungsrunde, an der jedoch die Wahlzettel der Wähler des CDU-Kandidaten, die ihre Ersatzstimme an die SPD gegeben haben, nicht mehr zum Zuge kämen, weil ja CDU und SPD quasi ausgeschieden sind. „Die Konstellation ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber sie könnte eintreten – das ist entscheidend", sagt Schönberger.

Darf ein Direktmandat gestrichen werden?

Die Wahlrechtsexpertin Halina Wawzyniak, ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete und nun (wie auch Schönberger) Sachverständige in der Wahlrechtskommission des Bundestages, sieht ebenfalls einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit wegen des doppelten Erfolgswerts von Stimmen. Zudem kritisiert sie den Ampel-Vorschlag, weil er an der personalisierten Verhältniswahl nach derzeitigem System festhalte, „aber die Rechtsprechung zur Unmöglichkeit des Wegfalls des Direktmandats für die Wahlkreissieger ignoriert“.

[Lesen Sie dazu beim Tagesspiegel Plus: Wie die Ampel den Bundestag verkleinern will]

In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012 heißt es, dass durch die Direktwahl in Wahlkreisen „zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben“ solle. Dieses Ziel könne aber nur verwirklicht werden, „wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei zur Verrechnung nicht ausreicht“. Laut Wawzyniak müsse demnach Wahlkreissiegern ihr gewonnenes Mandat zugeteilt werden.

Verstoß gegen Unmittelbarkeit der Wahl

Außerdem stelle sich die Frage, ob das Ampel-Modell nicht mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl kollidiere, sagt Wawzyniak. Karlsruhe habe festgehalten, dass dieser Grundsatz ein Wahlverfahren erfordere, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen könne, „wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann“. Das sieht Wawzyniak im Ampel-Modell als verletzt an. „Bei dem Modell weiß ich gerade nicht, ob meine Erststimme zu einem Direktmandat führt oder nicht gegebenenfalls nur meine Ersatzstimme.“

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