zum Hauptinhalt
Immer mehr Migranten dürfen wählen. Die Frage ist nur: Wollen die Parteien sie erreichen?

© dpa

Parteien im Wahlkampf 2013: Entscheidung zwischen Rassisten und Migranten

Immer mehr Migranten in Deutschland dürfen wählen, das zwingt die Parteien zu einer Entscheidung: Die eigenen rassistischen Wähler enttäuschen oder eine potenziell große Wählerschaft von vornherein verlieren.

Im Wahljahr 2009 veröffentlichte Grünen-Chef Cem Özdemir einen 54-sekündigen Video-Wahlaufruf an die Deutschtürken. Wenn sie für Mindestlohn, Gleichberechtigung von In- und Ausländern, bessere Bildung und die doppelte Staatsbürgerschaft seien, dann sollten sie grün wählen. Nichts Besonderes eigentlich. Bis auf eines: Özdemir sprach Türkisch.

Wütende Kommentare auf der grünen Seite waren die Folge. "Sind wir hier in Deutschland oder in der Türkei?", fragte einer. Der Werbespot sei ein "falsches Signal an die Deutschverweigerer", schimpfte ein anderer. Die Grünen stellten klar, dass das Deutschlernen natürlich wichtig sei. Unter dem YouTube-Clip sind bis heute die Kommentare abgeschaltet. 

Keine Episode, die groß Aufsehen erregt hätte. Doch sie gibt einen Hinweis, wie gering der Spielraum der Politik ist, wenn es um Ausländer, Integration und Islam geht. Islamophobie und Rassismus sind nicht der NPD-Klientel vorbehalten, sondern finden sich unter den Wählern aller Parteien. Besonders für die Volksparteien bedeutet das bisher: Nur nicht am Stammtisch mit zu viel Multikulti-Gerede auffallen.

Doch zur Realität gehört es auch, dass immer mehr Wähler Einwanderer sind. Mittlerweile haben etwa zwanzig Prozent der Deutschen Migrationserfahrung oder sind in Migrantenfamilien groß geworden. Unter den Wahlberechtigten zur Bundestagswahl 2009 stellten sie neun Prozent. Und ihre Zahl wächst. Etwa ein Drittel der Kinder bis zu zehn Jahren hat inzwischen einen Migrationshintergrund. Es deutet sich ein soziodemographischer Wandel an, den die Parteien nicht übersehen dürfen. Die Volkspartei der nächsten Jahrzehnte braucht unter diesen Wählern eine strukturelle Mehrheit, um erfolgreich sein zu können.

Wird sich die deutsche Politik also den Einwanderern anpassen müssen, so wie sich die amerikanischen Republikaner auf die wachsende Zahl der Hispanics einstellen müssen? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten.

Erstens zerfällt die Gruppe bei genauerer Betrachtung in viele völlig unterschiedliche Submilieus. Da gibt es etwa 2,6 Millionen wahlberechtigte Spätaussiedler, die in der Vergangenheit eher CDU und CSU wählten. Unter den übrigen Wählern mit Migrationshintergrund bildeten zur Wahl 2009 Polen mit etwa 750.000 und Deutschtürken mit etwa 500.000 Wahlberechtigten die größten Gruppen. Letztere galten bislang als Stammwählerschaft der SPD.

Zugewanderte wählen immer weiter links

Zweitens bewegen sich die Zugewanderten in den vergangenen Jahren weg von den Volksparteien und nach links. Spätaussiedler tendieren immer stärker zu linken Parteien, Deutschtürken wählen nicht mehr nur SPD, sondern verstärkt auch Linke und Grüne. Nur zehn Prozent kündigten in einer Umfrage 2009 an, die Union wählen zu wollen.

Dabei ist es die CDU, die den weitesten Weg in die Richtung deutscher Muslime zurückgelegt hat. Es waren Christian Wulff und zuvor Wolfgang Schäuble, die den Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" aussprachen. Es war die Union, die 2006 den Integrationsgipfel ausrief.

Schon länger geistert der Gedanke durch die Partei, dass die Muslime mit ihrem Konservatismus ein lohnendes Wählerreservoir wären. Der Chef der Türkischen Gemeinde, das SPD-Mitglied Kenan Kolat, sagt sogar: "Die Union hat programmatisch eigentlich nur noch zwei Probleme mit den Deutschtürken: den EU-Beitritt der Türkei und die doppelte Staatsbürgerschaft."

Die CDU ist weit entfernt von einer zuwandererfreundlichen Partei.

Doch ist die Union weit davon entfernt, eine zuwandererfreundliche Partei zu sein. Es ist einer ihrer Glaubenssätze, dass sie auch deswegen immer bedeutend war, weil keine andere Partei sie erfolgreich rechts überholte. Dass der Islam nicht gleichrangig mit dem Christentum sei, ist in der Union deshalb keine Außenseitermeinung – so etwas sagt auch der Fraktionschef Volker Kauder. Manche in der Partei warnen vor einer Islamisierung des Landes. Man kann das politische Schizophrenie nennen oder die Meinungsvielfalt einer Volkspartei. Jedenfalls lebt die Union bisher ganz gut damit. Sieht man von den verheerenden Zustimmungsraten unter den Deutschtürken ab.

Hartnäckig hält sich in den Parteien die Hoffnung, die Zugewanderten mögen sich eher als Linke, Grüne, Sozialdemokraten, Konservative oder Liberale betrachten denn als Zugewanderte. Es wäre ein Zeichen der gelungenen Integration. Und es ist ziemlich unwahrscheinlich. Zwar sind die Einwanderer und ihre Nachfahren inzwischen so unterschiedlich wie das ganze Land. Doch die Enthüllung des NSU-Terrors und die Sarrazin-Debatte haben eine Selbstwahrnehmung belebt, die schon überwunden schien: Wir sind in diesem Land nicht gewollt.

Der Soziologe Heinz Bude hat Ähnliches unter den Ostdeutschen beobachtet. Bemerkungen wie die von Edmund Stoiber 2002, frustrierte Ostdeutsche dürften nicht die Wahl entscheiden, lösten trotz aller Unterschiede eine kollektive Solidarisierung aus. Egal ob neureicher FDP-Wähler, Ex-Stasimann oder arbeitsloser Ostalgiker: Die gemeinsame Abwehrhaltung des erniedrigten Ossis ist milieuübergeifend und äußerst leicht zu wecken. Bis heute hat es keine Partei außer der Linken vermocht, sich dauerhaft als Interessenvertreterin der Ostdeutschen zu etablieren.

Parteien werben vor allem mit Symbolik um Migranten

Um die Migranten werben die Parteien vor allem mit Symbolik, der abstrakten Forderung nach verbesserter Integration oder Mandatsträgern mit Migrationshintergrund. Selten ist dagegen zu beobachten, dass Politiker die Deutschen auffordern, toleranter mit den Einwanderern umzugehen. Viele Wähler schalteten ab, sobald das Wort Rassismus fiele, sagt ein Sozialdemokrat.

Die SPD hat das Thema lange vernachlässigt – im Glauben, die Stimmen der Migranten fielen ihr automatisch zu. Zuletzt hat sich das geändert. Parteichef Sigmar Gabriel hat die doppelte Staatsbürgerschaft zum Wahlkampfthema gemacht, trotz der immer noch schmerzhaften Erinnerung an die hessische CDU-Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpass 1999.

Aber auch die Sozialdemokraten erlauben sich beim Thema Integration keine grenzenlose Bewegungsfreiheit. "Wir brauchen auch die Stimmen von Menschen mit rassistischen Einstellungen", soll ein Mitglied des Parteivorstands auf einer Vorstandsitzung vor wenigen Jahren unter zustimmendem Nicken gesagt haben. Trotz der jüngsten Versuche, unter den Einwanderern Stimmen zu gewinnen, heißen ihre prägnantesten Figuren der SPD zu dem Thema Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky.

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister ist nicht wie Sarrazin. Seine Migrantenkritik ist nicht mit biologistischen Fantastereien begründet. Seine einseitige Fixierung auf die Versäumnisse der Migranten macht ihn auch aber für jene zum Helden, die die Deutschtürken ohnehin für grundsätzlich falsch in diesem Land halten. Das prägt das Bild der SPD-Integrationspolitik unter den Migranten mehr, als es der Parteispitze bewusst ist.

Die Parteien müssen sich zwischen den Migranten und den eigenen rassistischen Wählern entscheiden

Auch der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist auf diesem Feld kein Linker. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, bejaht er nicht ohne Weiteres. Im Jahr 2010 verteidigte er Buschkowsky: Was der sage, werde nicht dadurch falsch, "dass es mit der heilen Welt von Integrationsillusionisten und der Verharmlosungssprache politischer Korrektheit kollidiert."

Womöglich planen Gabriel und Steinbrück im Wahlkampf eine Arbeitsteilung: Der Parteichef als linker Kämpfer für die multikulturelle Vielfalt, Steinbrück mit der rotzigen Attitüde des Stammtisches. Dann wären SPD und Union wieder ganz nahe beieinander. Aus Angst vor den eigenen Wählern in der Illusion gefangen, man könne beide Milieus gleichzeitig bedienen: Zuwanderer und jene, die sie zum Teufel wünschen.

Die Parteien werden sich bald zwischen beiden Lagern entscheiden müssen. Zwar machen sich Volksparteien angreifbar, wenn sie im Zweifel auch eigene, xenophobe Wähler konfrontieren. Schließlich könnte eine rechtspopulistische Partei leicht die vielen verschmähten Stimmen in der Eckkneipe einsammeln.

Doch noch schlimmer als Islamhasser im Parlament wäre es, wenn sich unter den Einwanderern die Vorstellung festigt, sie hätten es mit einer rein weißen Demokratie zu tun.

Kenan Kolat sagte dazu kürzlich: "Es ist ganz einfach. Es müssen einfach mehr Migranten als Rechte wählen." Er wird nicht mehr allzu lange darauf warten müssen.

Der Artikel ist bei Zeit Online erschienen

Christian Bangel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false