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Glanzvoll war der erste große Auftritt des neuen Spitzenduos Katrin Göring-Eckardt (links) und Jürgen Trittin.

© dapd

Parteitag der Grünen: Die Suche nach neuen alten Werten

Bürgerlichkeit ist für sie längst kein Schimpfwort mehr, im Gegenteil. „Mittendrin“ wollen die Grünen stehen. Aber was soll das bedeuten und wie kommt man dorthin? Das frisch gewählte Spitzenpersonal diskutiert. Dabei hat sich die Partei schon auf den Weg gemacht.

Von Sabine Beikler

Gleich kommt der ganz große Augenblick. Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt warten vor den Türen der Eilenriedehalle im Hannoveraner Congress Centrum. Ganz staatsmännisch steht der 58-Jährige da, im blauen Hemd und graumelierten Anzug, die linke Hand in der Hosentasche. An seiner Seite Katrin Göring-Eckardt im schwarzen Hosenanzug. Dann geht es los.

„1,2,3,4, tell me that you love me more. Sleepless long nights, that ist what my youth was for“, schallt es aus den Lautsprechern. Es ist ein Lied der Sängerin Feist, zu dessen Klängen das neue Traumpaar der Grünen winkend durch den Saal schreitet. Sag mir, dass du mich mehr liebst, heißt der Liedtext übersetzt. Und das tun sie wohl, die 720 Delegierten, die sich von ihren Plätzen erhoben haben und ihren Spitzenkandidaten frenetischen Applaus spenden.

Es ist ihr erster großer gemeinsamer Auftritt vor Parteifreunden an diesem Freitagabend nach Bekanntgabe des Urwahlergebnisses am vergangenen Wochenende. Die 46-jährige Bundestagsvizepräsidentin, die gut 47 Prozent der Stimmen erhielt, spricht als Erste. Ihr Tonfall ist ruhig. Göring-Eckardt bedient in dem Duo den sozialpolitischen Part. Sie spricht über die Gleichstellung von Lesben und Schwulen, über eine offene, bessere Gesellschaft, die man „aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger“ erreichen wolle. Das betont sie.

Die Grünen als große Belehrer, das soll nicht die Botschaft sein, die von diesem Parteitag ausgeht. Gerechtigkeit, Verteilung und Umverteilung heißen die Worte, die an diesem Wochenende in jeder Rede mehr oder weniger direkt ausgesprochen vorkommen. Auch bei Göring-Eckardt, die von „Grundtugenden“ wie Anstand, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit spricht. Und natürlich davon, dass die bürgerliche Koalition einfach schon vergessen habe, „wie man sich benimmt“.

Es klingt Pathos mit, in ihrer Rede. Ganz anders als bei Jürgen Trittin. Nach dem besonnenen Auftritt von Göring-Eckardt wirkt Trittin gleich noch lauter und offensiver. Er schimpft über die schwarz-gelbe „Gurkentruppe“ und beschwört den „grünen Wandel“. Der soll im Klimaschutz, im Umgang mit der Finanzmarktkrise, in Europa und eigentlich überall, in der gesamten Gesellschaft stattfinden.

Der Auftritt der beiden kommt gut an. Die Delegierten halten grün-gelbe Schals mit der Aufschrift „Grün gewinnt“ in die Höhe, einige wickeln sie sich um die Hälse. Die Inszenierung ist gelungen. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt Jürgen Meinke, 50, Kreisvorstandssprecher in Bremen-Mitte. Göring-Eckardt sei „sehr gut angekommen“, und Trittin sei „gewohnt brillant“ gewesen. „Eben der alte Politikerhase“, sagt Melanie Wolter, 32, aus Lüneburg. Und die Katrin sei vorher „eher unbekannt gewesen, aber sehr sympathisch“. Gabriela Schuchalter-Eicke, eine Delegierte aus Wiesbaden und dort Frauenpolitikerin, findet Göring-Eckart hingegen sehr leise. Sie habe „grüne Stereotypen“ aufgezählt. „Das war mir nicht politisch genug.“ Im Gegensatz zu jüngeren Delegierten kennt die 60-jährige Grüne ihre Spitzenkandidatin von ihrer Zeit als Fraktionschefin unter Rot-Grün. „Wenn man bedenkt, dass sie sich früher für Hartz IV eingesetzt hat, muss sie nun ein neues Image rüberbringen.“ Göring-Eckardt als Retterin der sozial Schwachen – „eine Aufgabe für Katrin“, sagt die Delegierte.

Wertkonservativ, aber nicht strukturkonservativ, so wollen sie sein

Glanzvoll war der erste große Auftritt des neuen Spitzenduos Katrin Göring-Eckardt (links) und Jürgen Trittin.
Glanzvoll war der erste große Auftritt des neuen Spitzenduos Katrin Göring-Eckardt (links) und Jürgen Trittin.

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Eine andere Aufgabe für die Grünen insgesamt ist der Umgang mit der bürgerlichen Mitte. „Mittendrin“ stehen sie, die Grünen, wie Göring-Eckardt betont. Aber was heißt das für die grüne Programmatik? Was ist bürgerlich, was ist die „linke Mitte“, in der Parteichef Özdemir seine Partei verortet?

In dem eigenen Selbstverständnis sagen Spitzenleute, die schon lange dabei sind, dass die Grünen sich in einer offener, pluralistischer gewordenen Gesellschaft nicht mehr „auf der anderen Seite der Barrikade“ befinden. Die Gesellschaft habe sich verändert, sei sozusagen den Grünen auch nähergekommen. Die Grünen sind zweifellos wertegeleitet. Sie propagieren im groben Sinne die Erhaltung der Natur, der Schöpfung und die Zukunftssicherung. Eine werteorientierte Mittelschicht denkt auch nicht mehr in den Klischees der 68-er Generation. Das sieht man besonders in Baden-Württemberg. Dort lebt man „in der Mitte“, wie baden-württembergische Grüne überzeugt erzählen.

Im hoch industrialisierten Südwesten haben die Grünen auch im ländlichen Raum dazugewonnen. Die Verbindung zwischen ökologischer Modernisierung und gesellschaftlicher Verantwortung nimmt man ihnen dort ab. Überspitzt könnte man sagen, dass der erste grüne Ministerpräsident der Republik, Winfried Kretschmann, die Inkarnation dieser „Wertschöpfungsperspektive“, darstellt, wie es ein Spitzenmann sagt. Hinzu kommt in Baden-Württemberg auch die Kombination aus dem „Kretschmann-Effekt“ und einer programmatisch weitgehend entkernten CDU unter dem Ex-Ministerpräsidenten und früheren CDU-Landeschef Stefan Mappus. Das habe schon genützt, gestehen Grüne.

Es sind nicht mehr nur die Postmaterialisten, die gebildeten, liberal, freiheitlich denkenden Kreise, die grün wählen; jene, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und das Geld haben, ihrem ökologischen Gewissen Genüge zu tun. Es sind in Baden-Württemberg auch die Arbeiter, die „bei Daimler schaffen“, die Öko-Standards und Emissionsgrenzen gut finden, es aber nicht laut sagen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu riskieren.

Bürgerlichkeit in Verbindung mit Werten wie sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit oder einer finanzierbaren Energiewende ist für die Grünen kein Problem mehr, das die Partei zerreißt. Ein Schimpfwort ist Bürgerlichkeit längst nicht mehr. Allerdings muss sie in einer grünen politischen Programmatik fassbar werden. Das ist das Credo, das von diesem Parteitag ausgeht. „Die gesellschaftliche Mitte öffnen, heißt nicht, dass wir unsere Inhalte schleifen, um am Ende bei CDU/CSU anzudocken“, sagt Parteichef Cem Özdemir. Grüner Wandel, wie Trittin klarstellt, schließe eine erfolgreiche Energiewende und eine offene Gesellschaft mit Gerechtigkeit und Teilhabe mit ein. „Das gibt es nur mit starken Grünen – und nur in einer rot-grünen Koalition.“ Diese Kernbotschaft wird von jedem grünen Spitzenpolitiker transportiert. Die Partei, das ist klar, will die Wähler der Union gewinnen – mit grünem Wertekanon. „Wir sind wertkonservativ, aber nicht strukturkonservativ“, sagt Trittin. Sehr selbstsicher wagen sich die Grünen daran, „Grün oder Merkel“ zu postulieren, wie es der Spitzenkandidat bezeichnet. Im Wahlkampf wollen sie die Bundeskanzlerin demaskieren. „Es kann nicht sein, dass eine Regierungschefin so tut, als ob sie nichts mit ihrer inkompetenten Regierung zu tun hätte“, sagt ein grüner Bundestagsabgeordneter. Sehr kokett formuliert Trittin an die Adresse von Merkel, dass man nicht in der Mitte stehe, „wenn man zwischen Crazy Horst und Rainer Brüderle steht“.

Die CDU sei eben keine Großstadtpartei mehr, sie habe die „Antennen für moderne Themen“ verloren. Das sagt Fritz Kuhn, der neu gewählte Oberbürgermeister in Stuttgart. Das „Bürgertum in allen Ausprägungen“ habe die CDU eben nicht gepachtet, ihr Monopol für das bürgerliche Lager sei gebrochen. „Und das wollen wir gut pflegen, dass es so bleibt.“ Das sagt Kuhn, das sagen auch andere Reformer in der Partei, und dagegen hat auch die Parteilinke nichts.

Nicht alle setzen ihre Forderungen durch, doch die Stimmung bleibt gut

Claudia Roth bleibt Parteivorsitzende der Grünen. Mit über 88 Prozent der Stimmen erzielte sie ein überraschend gutes Ergebnis.
Claudia Roth bleibt Parteivorsitzende der Grünen. Mit über 88 Prozent der Stimmen erzielte sie ein überraschend gutes Ergebnis.

© dpa

Das bürgerliche Lager, das den Grünen lieb und sympathisch ist, soll den Anspruch haben dürfen, freiwillig höhere Steuern zu zahlen, wenn das Geld vernünftig wieder eingesetzt wird. Das nennen die Grünen gerechte Umverteilung. Und so soll auch das milliardenschwere Sozialpaket mitfinanziert werden, das die Partei am Samstag beschlossen hat: Der Hartz-IV-Satz soll auf 420 Euro steigen. Kostenpunkt: etwa 2,5 Milliarden Euro. Das wiederum soll mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro verknüpft werden.

Um mehr Geld in die öffentlichen Kassen zu bekommen, wollen die Grünen den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent erhöhen. Eine 1,5-prozentige Vermögensabgabe für Reiche soll rund 100 Milliarden Euro bringen. Das Aufkommen aus der Erbschaftssteuer soll verdoppelt werden. Und durch das Abschmelzen des Ehegattensplittings erhofft sich die Partei mindestens 3,5 Milliarden Euro. Ein Teil dieses Geldes soll in eine neue Kindergrundsicherung fließen. Kinderfreibeträge für Eltern, Kindergeld und Kinderregelsätze sollen im Gegenzug abgeschafft werden.

Die Stimmung bleibt entspannt. Selbst wenn sich nicht alle mit ihren Forderungen durchsetzen – es bleibt bei der Rente mit 67 und bei Sanktionen für Langzeitarbeitslose – so können doch die meisten mit den Beschlüssen gut leben. Die Parteilinke spricht von einem „klaren Signal, dass die Grünen eindeutig eine linke Partei ist“. Und die Reformer sehen „Zeichen für Aufbruch und Geschlossenheit“.

Geschlossen begeistert sind die Grünen am Samstagnachmittag auch vom Auftritt Claudia Roths. Dabei ist die 57-Jährige nach ihrer herben Niederlage bei der Urwahl gar nicht so gefasst, wie sie auf ihr Publikum wirkt. „Ja, ich bin sehr nervös“, sagt sie und reibt sich ihre Hände. Ihre Rede schreit sie sich förmlich von der Seele. Nach vielen „Stunden mit Schatten“ sei die „Trauerzeit jetzt vorbei“. Sie habe sich über den Zuspruch im Internet und über die vielen Mails sehr gefreut. Und sie freue sich auf eine Demokratiedebatte im Wahlkampf. Auch sie spricht von „großen Gerechtigkeitsfragen“, einer modernen Gesellschaftspolitik und von den Grünen, die „neue Fragen“ stellen. Die Merkel-Regierung mache nur Symbolpolitik. „Wir Grüne sind und bleiben anders“, ruft Claudia Roth ins Mikrofon, „wir machen Politik auf Augenhöhe“.

Sie biete der Partei ihre Arbeit an, die die Grünen zusammenführe. Minutenlang erhält sie Beifall, Jubelrufe sind zu hören. 88,5 Prozent der Delegierten wählen sie wieder in den Parteivorsitz. Der Co-Vorsitzende Cem Özdemir erhält nach seiner Rede bei Weitem nicht so einen frenetischen Applaus, wird aber mit 83,3 Prozent ebenfalls wiedergewählt.

Die Geschlossenheit der Partei ist auch in der Frage um ein schwarz-grünes Bündnis 2013 auf Bundesebene evident. Özdemir schließt Schwarz-Grün aus, Trittin, Göring-Eckardt und Roth ebenso. Und auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, stille Zuhörerin am Freitag auf dem Parteitag, sagt: „Wegen Schwarz-Grün mache ich mir keine Sorgen.“ Und wenn es nicht für Rot-Grün reicht? Für diesen nicht unwahrscheinlichen Fall will dann doch kein Grüner Gespräche mit den Christdemokraten gänzlich ausschließen.

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