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Plädoyer des Nebenklägers: „Die Wahrheit über Sobibor muss ans Licht“

Der Überlebende Jules Schelvis ist Nebenkläger im Prozess gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk. Sein Plädoyer in Auszügen.

Der 90-jährige Niederländer Jules Schelvis ist Nebenkläger im Prozess gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk. Seine Frau Rachel starb am 4. Juni 1943 in einer Gaskammer des NS-Vernichtungslagers Sobibor. Schelvis selbst ist einer der wenigen Überlebenden des Lagers. Seit Jahrzehnten erforscht er die Geschichte Sobibors. Sein Plädoyer vor dem Münchener Landgericht in Auszügen:

Ich bin Jules Schelvis, nach München gekommen, um im Prozess gegen John Iwan Demjanjuk ein Plädoyer zu halten, obwohl ich im übertragenen Sinn des Wortes sowohl in Sobibor als auch in Auschwitz schon mit einem Bein in der Gaskammer stand. (...)

Als Historiker sehe ich mich berechtigt, zunächst anzumerken, dass Demjanjuk in diesem Prozess zu viel und den Opfern von Sobibor sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das gilt insbesondere für die Juden aus Polen und anderen Ländern, die in Sobibor ermordet wurden, die aber nicht durch Nebenkläger vertreten sind. (...)

Nicht jeder Soldat verliert auf dem Kriegsschauplatz die normalen menschlichen Normen, die er von Jugend an gelernt hat. Aber unter extremen Umständen zählen diese Normen für viele nicht mehr. Es findet ein Prozess der Abstumpfung statt. Das Kämpfen und Töten in einem regulären Kampf gehört zum Metier. Soldaten gehen im Allgemeinen davon aus, dass sie ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllen. In Sobibor wurde von der SS kein Land verteidigt. Es war der Wahnsinn der Nazis, ihre Gegner, in diesem Fall die Juden, zu töten. Aber waren sie denn Gegner? Bis in die höchsten Befehlskreise der SS wurden sie zu Gegnern erklärt. Die niedrigen und niedrigsten Ränge befolgten die Befehle ihrer Vorgesetzten ohne Zögern. Wie kommen Menschen dazu, weit entfernt vom Kriegsschauplatz bedenkenlos tausende ihnen völlig unbekannte Personen in den Tod zu jagen? Nun, einer von ihnen liegt regungslos in diesem Saal, ohne eine Antwort auf meine Frage zu geben.

Wenn nicht am 14. Oktober 1943 in Sobibor ein erfolgreicherAufstand unter den sogenannten Arbeitsjuden stattgefunden hätte, hätte nie jemand noch etwas über Sobibor berichten können. Dann wäre Sobibor für immer unbekanntes Terrain gewesen. (...) Nur 47 Männer und Frauen haben diesen Aufstand überlebt, nicht zuletzt, um die Wahrheit über Sobibor bekannt zu machen. Auch dieser Prozess hat hierzu besonders beigetragen. (...)

Als Nebenkläger bin ich stolz darauf, in diesem Saal in München mein Plädoyer zu halten. Als Überlebender gebe ich Zeugnis von meiner kurzen Anwesenheit im Vernichtungslager. Ich tue dies, weil ich es meiner Frau Rachel und den zahllosen anderen ermordeten Verwandten schuldig bin, und weil ich das Schicksal von 170 000 Juden als Mahnung in das Gedächtnis eines jeden einprägen will, und zwar angesichts einer Welt, die dies nur allzu schnell vergessen will.

Glauben Sie mir, die unermessliche Trauer über das Schicksal meiner Lieben, auch wenn es schon so lange her ist, wird mich mein weiteres Leben begleiten. Wie es dem hier anwesenden Demjanjuk nach der Verkündung des Urteils weiter ergehen wird, ist, jedenfalls für mich, nicht von primärer Bedeutung. Was ich verlange ist, die Wahrheit über Sobibor ans Licht zu bringen und dass Gerechtigkeit geschehen wird. (...)

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass nach den überzeugenden Ausführungen des Staatsanwalts kein Zweifel an der Beweisführung bestehen kann: John Iwan Demjanjuk war Wachmann in Sobibor.

Bei allen, die in Sobibor ihren Dienst geleistet haben, egal welche abscheulichen, unmenschlichen und widerlichen Taten sie begangen haben, fehlte die geringste Spur von Humanität. John Iwan Demjanjuk war da keine Ausnahme.

Am heutigen Tag kehre ich zurück zu den humanistischen Idealen, die ich von meinen Eltern mitbekommen habe. Ich habe vergessen zu sagen, dass meine Mutter überlebt hat, aber dass mein Vater im Dezember 1944 in Sachsenhausen ermordet wurde. Aus Respekt vor meinen humanistischen Eltern ersuche ich das Gericht, dass es die Schuld dieses uralten Mannes, der schon neun Jahre im Gefängnis verbracht hat, feststellt, ihn aber nicht bestraft.

Ich möchte mein Plädoyer enden mit einigen Zeilen aus einem Gedicht von Friedrich Rückert.

Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen!

Bald werden sie wieder nach Hause gelangen.

Der Tag ist schön! O sei nicht bang.

Sie machen nur einen weiten Gang.

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