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Politik: Polen zuerst

Nach dem erwarteten Machtwechsel dürfte Warschau in der EU stärker auf nationale Interessen pochen

Wie bei jeder Parlamentswahl seit der demokratischen Wende steht Polen auch nach dem Urnengang an diesem Sonntag ein Machtwechsel bevor. Nicht nur mit den Entbehrungen der Wirtschaftstransformation, schmerzhaften Reformen und der wenig gefestigten Parteienlandschaft ist der seit 1989 übliche Stabwechsel zwischen den bürgerlichen Erben der Solidarnosc und den postkommunistischen Sozialdemokraten (SLD) zu erklären. Den wachsenden Vertrauensverlust bei den Wählern haben sich Polens Politiker selbst eingebrockt. Vor vier Jahren war es die diskreditierte Rechte, die mit ihrer Abwahl von ihrem enttäuschtem Anhang die Quittung für Vetternwirtschaft und Selbstzerfleischung erhielt. Nun sind es die Sozialdemokraten, die nach zahlreichen Korruptionsskandalen um ihre parlamentarische Zukunft bangen müssen.

Die Wahl wird dem Land ein neues Kabinett mit altbekannten Gesichtern aus früheren Regierungen bescheren. Aus den Fehlern der Vergangenheit habe man gelernt, gelobt das keineswegs homogene Bündnis von Rechtsliberalen (PO) und Nationalkonservativen (PiS) ihren Landsleuten einen Aufbruch in andere, nicht mehr von alten Seilschaften bestimmte Zeiten. Aus welcher der beiden Parteien nun der Ministerpräsident kommen wird, war am gestrigen Freitag nach den jüngsten Umfragen offen: Die Nationalkonservativen lagen mit den Rechtsliberalen bei 30 Prozent gleichauf.

Die EU-Partner setzen unterdessen vor allem darauf, dass die künftigen Koalitionäre auf der Regierungsbank mehr europäischen Pragmatismus als in der Opposition demonstrieren. Tatsächlich ist mit einer Neu-Auflage von populistischen Parolen wie „Nizza oder der Tod“, mit denen beispielsweise Premier-Anwärter Jan Rokita die ungeliebte EU-Verfassung torpedierte, nach dem erwarteten Wechsel an der Weichsel wohl kaum zu rechnen. Allerdings dürfte sich der größte EU-Neuling, dem seit den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg und dem gescheiterten Verfassungsgipfel von 2003 der Makel des europäischen Störenfrieds anhaftet, für die EU-Partner auch in Zukunft als eher schwieriger Partner erweisen. Priorität haben für die künftigen Koalitionäre die traditionell guten Beziehungen zu den USA. In Europa will Warschau nicht nur bei den Verhandlungen um das künftige EU-Budget noch stärker als bisher auf Polens nationale Interessen pochen. Vor allem die Ostpolitik der EU sowie die misstrauisch beäugte deutsch-französische Achse haben die neuen Machthaber im Visier.

Seit Polens erfolgreichen Mittlerbemühungen während der Ukrainekrise wird die Brückenfunktion des Landes nach Osten auch in westeuropäischen Hauptstädten geschätzt. Noch mehr als bisher will Warschau in Brüssel um Aufmerksamkeit für die EU-Anrainer Ukraine und Weißrussland werben, noch nachhaltiger vor einer Russlandpolitik auf Kosten Polens und des Baltikums warnen. Vor allem Paris und Berlin wirft Polen einen allzu willfährigen Umgang mit Moskau über die Köpfe von dessen früheren Satellitenstaaten vor. Während die PO immerhin das Streben nach einer guten Nachbarschaft gelobt, bezeichnet die PiS EU-Partner Deutschland neben Russland gar als die größte Sicherheitsbedrohung des Landes.

Doch auch von Polens patriotischen Eiferern wird selten etwas so heiß gegessen wie gekocht. Seit der EU-Erweiterung hat sich das Land unerwartet schnell in die Union integriert. Obwohl eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse noch auf sich warten lässt, ist die Mehrheit der Polen von den Segnungen des EU-Beitritts längst überzeugt. Selbst wenn die neue Regierung die Nachbarn noch stärker mit historischen Aufrechnungen ermüden sollte, wird der Sinn der EU-Mitgliedschaft selbst von den Populisten im Sejm kaum mehr ernsthaft in Frage gestellt.

Thomas Roser[Warschau]

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