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Politik: Politik 2000: Extreme Gewalt

Das Datum 27. Juli 2000 markiert einen Wendepunkt.

Von Frank Jansen

Das Datum 27. Juli 2000 markiert einen Wendepunkt. An diesem Tag explodierte in Düsseldorf ein Sprengsatz, zehn aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Aussiedler, die meisten von ihnen Juden, wurden verletzt. Bundesinnenminister Otto Schily äußerte rasch den Verdacht, der Anschlag habe einen rassistischen Hintergrund - und in der Bundesrepublik setzte mit ungeahnter Wucht eine Debatte über die rechtsextreme Gefahr ein.

Politiker, Gewerkschafter, Kirchenleute, viele gesellschaftliche Gruppen meldeten sich jetzt mit Warnungen, Mahnungen und Vorschlägen zu Wort. Manche Ideen in den ersten Wochen der Debatte wirkten überhitzt: Da wurde zum Beispiel gefordert, Post mit mutmaßlich rechtsextremem Inhalt nicht mehr zu befördern - womit das Briefgeheimnis verletzt würde. Die Debatte konzentrierte sich dann auf die Frage, ob ein Verbot der NPD sinnvoll sei. Zum Jahresende gab es erste Antworten: Die Bundesregierung sowie die Mehrheit in Bundesrat und Bundestag sprachen sich für einen Antrag auf Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht aus.

Bis heute ist nicht geklärt, wer den Anschlag in Düsseldorf verübt hat. Aber die Realität des rechten Straßenterrors wurde jetzt stärker wahrgenommen. Es kam zu einer Kursänderung: Bezug nehmend auf eine Liste, die Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau" Mitte September vorlegten, gab Bundesinnenminister Schily zu, dass die offizielle Zahl der Todesopfer rechter Gewalt nicht stimmt. Die beiden Zeitungen führten 93 getötete Ausländer und Deutsche auf, die Sicherheitsbehörden hatten bis dahin 26 Opfer gemeldet. Schily sprach nun von "Erfassungsdefiziten" und gab im November eine korrigierte Zahl von 36 Todesopfern bekannt. Der Minister stieß jedoch sofort auf Widerspruch: Nach Ansicht von Bernhard Falk, dem Vizepräsidenten des Bundeskriminalamts, ist auch der neue Wert vermutlich zu niedrig.

Als wesentliche Ursache für die Erfassungsdefizite wurde in den Sicherheitsbehörden eine untaugliche kriminalistische Begrifflichkeit genannt. Der Terminus "rechtsextremistische Straftat" bedinge einen Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung. Doch sei kaum zu erwarten, dass ein "normaler" Polizist zu Beginn der Ermittlungen die Attacke eines betrunkenen Skinheads auf einen Obdachlosen als Anschlag auf das politische System der Bundesrepublik wertet. Laut Schily soll nun der Begriff "politisch motivierte Straftat" eingeführt werden. Doch äußern sich Experten der Sicherheitsbehörden skeptisch. Ob mit dem neuen, eher allgemein gehaltenen Terminus eine genaue Erfassung rechter Delikte möglich ist, sei ungewiss.

Die rechten Schläger hat die ganze Diskussion wenig beeindruckt. Nach Erscheinen der Liste in Tagesspiegel und "Frankfurter Rundschau" wurden zwei weitere Obdachlose erschlagen. Und die Zahl der rechten Straftaten insgesamt wird in diesem Jahr so hoch sein wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung: Mehr als 12 000 Delikte sind wahrscheinlich. Gleichzeitig ist laut Verfassungsschutz das Potenzial der militanten Rechtsextremisten (1999: 9000 Personen, zumeist Skinheads) weiter gewachsen.

Die Gewaltbereitschaft in der Szene hat weiter zugenommen. Vor wenigen Tagen erst hat ein neuer Vorfall, wieder im brandenburgischen Guben, aufgeschreckt. Dort soll sich ein Skinhead, der erst vor sechs Wochen im "Hetzjagd-Prozess" verwarnt worden war, an einem Angriff auf einen jungen Deutschen mongolischer Herkunft beteiligt haben.

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